Und wie bezaubernd sie das Französische sprach! Wenn sie sagte: «Je t’aime», dann überlief es ihn. Sie sagte es harmlos, aber er ließ es sie so oft wiederholen, bis sie es nicht mehr harmlos sagte. Dieses Erröten, dieses die Wimpern Senken, daß sie wie dunkle Schatten auf den Wangen lagen, galt das ihm? Der in der Liebe Erfahrene, der längst kein Jüngling mehr war, den Vierzigern näher als den Zwanzigern, forschte wie ein Neuling. Vierzehn Jahre – konnte sie denn schon lieben? Er sah ihr in die Augen, die noch kindlich groß in die seinen blickten; aber versenkte sein Blick sich zu tief, schwimmend von Begehren, dann fing auch der klare Glanz ihrer Augen an, sich zu verschleiern, dann wurde ihr bis dahin offener Blick scheu – mußte er etwas verbergen? Es bebte der Mann vor Entzücken.
Es waren Unterrichtsstunden, die den Lehrer alles andere vergessen ließen: seine Familie – Gattin und Kinder – die Politik, die Rankünen des Alten in Sanssouci, an denen er es nicht fehlen ließ, jetzt weniger denn je. War dem ewig Nörgelnden vielleicht von seinen Spionen bereits hinterbracht worden, warum der Thronerbe die Regierungsgeschäfte, um die er sich wenigstens dem Schein nach in etwas gekümmert hatte, nun ganz außer acht ließ? Unmöglich! Wer von den wenigen Freunden, die um sein Geheimnis wußten, hätte ihm, dem Vielgeplagten, so lange schon auf den Thron Wartenden, nicht gern diese ihn so beglückende Zerstreuung gegönnt? Freilich, der Graf von Anhalt-Dessau hatte, ehe er, zur Gesandtschaft nach Petersburg kommandiert, abreiste, Worte fallen lassen, die wie eine Warnung klangen: «Ich habe Eure Königliche Hoheit in dieses Haus gebracht, es wäre mir leid, wenn dieses zu einem Ärgernis ausfallen würde. Leid um Ihrer selbst willen, leid um den ehrenwerten Enke, leid um meine alte Freundin, die Enkin. Am meisten leid um die Kleine. Sie ist ein goldiges Ding, das schon von klein an mich alten Sünder mit dem Netz ihrer Unschuld und Schönheit umstrickt hat. Aber mehr denn als Patenkind kann ich sie mir doch nicht in die Schuhe schieben lassen, wenn Sie, Prinz, vielleicht auch solches vermuten dürften. Nur Patenkind, auf meine Ehre als Kavalier und Soldat. Ich habe Wilhelminen als Kind Ihrer Gnade empfohlen – Königliche Hoheit, vergessen Sie nicht: Ihrer Gnade!»
War er denn nicht gnädig? Der Prinz von Preußen glaubte, sich keiner Schuld bewußt sein zu müssen. War es denn nicht lobenswert, diesem jungen Wesen, das hungrig nach Wissen und Bildung war und aufnahmebereit für alles, was Kunst hieß, nach besten Kräften das mitzuteilen, was er selber davon besaß. Er bedauerte jetzt, nicht mehr zu wissen. Wie sie an seinen Lippen hing! Nie hat ein Lehrer eine aufmerksamere Schülerin vor sich gesehen. Mit tiefem Atemholen sog sie alles in sich hinein wie eine dürstende Pflanze den labenden und befruchtenden Regen. Es war erstaunlich, was sie für Fortschritte machte.
«Sie lernt ja auch die ganze Nacht, sie schläft vor lauter Lernen nicht mehr», sagte stolz und doch auch ein wenig klagend Enke. Das Wilhelminchen wurde ordentlich blaß davon, die runden Wangen zarter und schmaler. Es wäre der Mutter begreiflicher gewesen, der hohe Herr hätte mit ihr oben in der guten Stube gesessen wie einst ihre Älteste mit dem Matuschka. Aber dagegen wehrte der Prinz sich: nein, oben nicht, nicht in jener Stube, die einst so manches gesehen und gehört hatte, was für sein Kleinod nicht paßte! So saß er denn lieber unten in der Küche mit ihr, aus der jeder Küchengeruch verbannt wurde an dem Tage, an dem er erschien. Was wußte er davon, daß den Enkes an diesem Tag nichts Warmes in den Magen kam. Die Küche war zum Wohngemach umgestempelt, mit ein paar besseren Sachen dürftig möbliert, es durfte niemand sonst sie mehr betreten. die Brüder mußten oben auf der blanken Diele des Bodens liegen, bis der hohe Herr nach Mitternacht fortging. Auch Enke kam dann erst spät heim; längst über die Polizeistunde saß er in einem Winkel der Kneipe, wies man ihn endlich hinaus, wartete er an der Straßenecke, bis er daheim erwünscht war. Er hatte ein Zuhause nicht mehr.
Nur die Mutter wurde noch geduldet, aber auch sie störte den Lehrer. Alles störte ihn. Die Knickse der Frau, ihre halb devoten, halb vertraulichen Redensarten fielen ihm auf die Nerven. Seine Blicke, wie die eines Verirrten, stießen sich an den kahlen, nüchternen Wänden – war das eine Umgebung für ihn?! Fielen seine Augen aber auf das schöne Kind, das sich, tief übers Heft neigend, mit vor Eifer geröteten Wangen an einem Aufsatz über die Geschichte Brandenburgs schrieb, schwand jeder Unmut; er sah nur sie, sie. Denn er liebte sie. Und die Unmöglichkeit, sie hier in dieser Umgebung zu besitzen, so wie er sie zu besitzen begehrte, ungestört, raubte ihm jede verständige Überlegung und jedes Besinnen. Warum sollte er sie denn nicht hier fortnehmen? Sie paßte ja gar nicht hierher. Die fünfzig Taler, die er der Mutter monatlich gab, konnten die ganze Umgebung nicht ummodeln. Wilhelmine wieder zu den Matuschkas bringen? Leichtsinnige Frau, russischer Barbar – Gott sei davor, daß er solches täte! Sein Kind, sein Kleinod, sein über alles geliebtes Mädchen! Es mußte bewahrt werden vor allem Häßlichen, ganz im geheimen der Stunde entgegenreifen, in der es ihm von selber in die Arme sank: «Ich bin dein.»
Wer durfte dem Prinzen von Preußen, dem demnächstigen Herrscher, ein Halt gebieten? Niemand. Nur der in Sanssouci. Der würde es freilich kaum erfahren, der hatte soviel mit seiner Gicht zu tun, mit seinem, nur durch die Macht seiner Persönlichkeit endlich zustande gekommenen Fürstenbund, daß er sich um solche Bagatelle jetzt nicht mehr kümmerte. Und doch, wohin mit dem geheimen Schatz? Der Thronfolger ängstigte sich: Berlin war gefährlich, seine Darmstädterin mit den Kindern wohnte in Monbijou; Friederike Luise war zwar ganz bequem, redete ihm in nichts herein, würde gar nichts weiter davon wissen; aber die Geister, an die sie glaubte, konnten ihr einmal etwas verraten. Und im Schlößchen Schönhausen wohnte Tante Elisabeth – der König kümmerte sich nicht mehr um seine Frau, nur noch Belege für Beleuchtung, Brennmaterial und Führung des Haushalts forderte er und knauserte daran – die hatte Zeit genug für den Klatsch. Aber da seine Tochter aus erster Ehe mit Elisabeth von Braunschweig bei der alten Königin erzogen wurde, durfte er es mit ihr nicht verderben. Überall, wohin der Ungeduldige blickte, Behinderungen und Rücksichtnahmen. Es war zum Verzweifeln! Kann denn nicht einmal der von Gottesgnaden tun, was ihm beliebt?! Da fiel ihm sein Kammerdiener Rietz ein. Rietz, treue Seele! Rietz hatte ihm schon aus mancher Verlegenheit geholfen, Rietz fand immer einen Ausweg, Rietz würde auch hier einen Ausweg wissen. Geld würde es freilich kosten – alles kostet Geld –, sechzigtausend Taler Apanage und viermal hunderttausend Taler jährliche Ausgaben, das reimt sich schlecht.
Kammerdiener Rietz war der Sohn des früheren Hofgärtners Rietz in den Sanssoucier Gärten. Der Sohn war da früher auch tätig gewesen, hatte gepflanzt, gegossen, gejätet, Erde herbeigekarrt wie die andern Gartengehilfen, aber seine hübsche Erscheinung, seine Intelligenz, sein höflich-gewandtes Benehmen fielen vorteilhaft auf. Es war der große König selber gewesen, der dem Neffen diesen jungen Menschen – fleißig, zuverlässig, bescheiden, Sohn eines alten bewährten Gärtners – auf die Dienerschaftsliste gesetzt hatte. ‹Kammerdiener›, fast so wichtig wie Minister – wer weiß, was der Neveu sich sonst für ein ‹mauvais sujet› zugelegt hätte! So blieb man auch immer gewissermaßen auf dem laufenden über etwaige Debauchen und Torheiten des leider niemals zur rechten Einsicht Gelangenden. Manche Dummheit hatte man durch den Rietz schon glücklich verhindern können. Und Rietz nahm niemals eine Belohnung für solch geleisteten Dienst.
«Halten zu Gnaden», sagte Rietz, als er heute nacht beim Auskleiden seinem Herrn die gewohnten Dienste leistete – der Prinz hatte sich’s bereits bequem