Grabesblüte - Schweden-Krimi. Björn Hellberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Björn Hellberg
Издательство: Bookwire
Серия: Sten Walls vierter Fall
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726444940
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Kirribilli – ein Frachtschiff der Transatlantic – unter anderem nach Australien und Neuseeland: wundervolle Länder, weit weg vom südschwedischen Winterschneematsch und den beißend scharfen Höllenwinden.

      Auf ihr – der Kirribilli – war er so gerne gefahren.

      Einmal hatte er sich ernsthaft überlegt, in Adelaide abzumustern, um sein Glück als Opalsucher in Port Augusta zu versuchen, aber seine Frau hatte ihn überredet, lieber auf Nummer Sicher zu gehen.

      Im Geiste hörte er noch ihre ängstliche hohe Stimme: »Da weiß man wenigstens, was man hat. Wer weiß, was einen dort erwartet, Ragnar? Schlag dir diese albernen Grillen aus dem Kopf und mach bei der Reederei weiter. Du weißt doch, dass was Kleines unterwegs ist.«

      Plötzlich packte ihn eine Riesenwut auf sie, weil sie all seine Aussichten auf Abenteuer und Reichtum in Port Augusta im Keim erstickt hatte. Und wenn er eine eigene Mine gefunden und abgebaut hätte? Er hätte mit Opalen steinreich werden können, anstatt auf seine kümmerliche Rente angewiesen zu sein, die ihn zu einer schäbigen Einzimmerwohnung mit Kochnische in »Grönland« verdammte, der hässlichsten Wohngegend von Stad.

      Der jäh aufgeflammte Zorn verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war. Er sah ein, dass er ihr natürlich nicht eine so ungeheuer lange zurückliegende Entscheidung anlasten konnte. Und außerdem hatte er niemanden, gegen den er seinen Zorn richten konnte, weil Agnes ja nicht mehr am Leben war.

      Sie war vor ziemlich langer Zeit gestorben, aber wann genau, wusste er nicht mehr.

      Seltsam: die Todestage seiner beiden Eltern (die das Zeitliche gesegnet hatten, als er noch in den Jugendjahren gewesen war) konnte er präzise benennen, aber er wusste nicht einmal mehr, in welchem Jahr seine eigene Frau verschieden war.

      Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?

      Auf jeden Fall im Spätwinter. Er sah noch den braunen Schneematsch an den Rädern des Krankenwagens vor sich, als die Sanitäter sie nach dem heftigen Herzinfarkt, der ihr Leben in einem einzigen grausamen Moment beendet hatte, aus der Wohnung trugen. Im Fenster der Nachbarwohnung hatten sich die Gardinen bewegt – ihr Fortgang aus dem Haus war nicht unbemerkt geblieben.

      Ein paar Tage später hatte die kräftige Sonne die letzten Schneewehen des Winters in frühlingswilde Bäche und Rinnsale verwandelt. Das wusste er noch, nur nicht mehr, in welchem Jahr das gewesen war.

      Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?

      Wenn er nach Hause kam, würde er Erling anrufen müssen, um zu überprüfen, ob es stimmte.

      Obwohl, vielleicht war das doch keine so gute Idee. Wenn der ihm dann Senilität vorwarf? Sein Sohn hatte so merkwürdige Ideen. Das konnte sich dann so anhören:

       Weißt du wirklich nicht mehr, wann Mama gestorben ist? Das ist ja furchtbar. Bist du sicher, dass du in der kleinen Bude allein zurechtkommst? Wollen wir nicht lieber zusehen, dass wir dich in einem gemütlichen Heim unterbringen, wo man sich um dich kümmert und wo du die nötige Pflege erhältst?

      Der alte Mann hatte nicht die Absicht, in ein Heim zu ziehen, und wenn es noch so gemütlich war. Am besten rief er den rechthaberischen Sohn gar nicht erst an, sondern konzentrierte sich ganz auf Agnes. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt fehlte. Ihr Eheleben war nie überschäumend gewesen. Durch seine ständige Abwesenheit war die erste leidenschaftliche Liebe auffallend rasch abgekühlt, und als sein Sohn aus dem Nest geflogen war, war es, als hätten sie beide einander immer weniger zu sagen gehabt.

      Die meiste Zeit schwiegen sie einander an.

      Zur gleichen Zeit, als Erling auszog, ging er selbst in Rente, und es dauerte nicht lange, bis den Eheleuten klar wurde, dass sie sich auseinander gelebt hatten. Ihre Ansichten und Gewohnheiten klafften weit auseinander; dass sie trotzdem zusammenblieben, lag sicherlich nur an Gewohnheit, Bequemlichkeit und falscher Rücksicht. Keiner von beiden hatte die Kraft oder den Mut zu einer Trennung.

      Und dann war sie gestorben, an einem Märztag mit Schneematsch im Jahr 1992.

      Wenn es nicht 1991 gewesen ist.

      Vielleicht konnte er es doch wagen, Erling anzurufen, nur um seine Neugier zu stillen. Schließlich konnte er das ja so ganz nebenbei erwähnen, während er so tat, als riefe er aus einem ganz anderen Grund an.

      Das vorsätzlich Böse war jetzt keine zehn Meter mehr von seinem unwissenden Opfer entfernt, bereit zuzuschlagen.

      Bald würde der entscheidende Schlag fallen.

      Es war so weit.

      Der Alte hatte keine Ahnung, was für ein Grauen sich hinter den Baumstämmen am Wegrand verbarg. Sonst hätte er natürlich alles unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen, so schwer das in seiner Verfassung auch sein mochte.

      Stattdessen machte er eine Pause, während der er angestrengt das Gesicht seiner Frau heraufzubeschwören versuchte. Panik befiel ihn, als das Bild verschwommen und konturlos blieb, als hätte es sie nie gegeben.

      Vielleicht stand es schlimmer um ihn, als ihm selbst bewusst war: sich nicht einmal die Gesichtszüge der Person vergegenwärtigen zu können, mit der er vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war – schlimm, schlimm!

      Doch sein schlechtes Gefühl legte sich, als sie plötzlich vor ihn trat, breit in den Hüften, mit Pausbacken, die Nase rund wie eine Ofenkartoffel, die glanzlosen Haare streng zurückgekämmt.

      So hatte sie ausgesehen. Ganz genauso.

      Und in dem Moment verspürte er einen Stich, etwas wie Sehnsucht, ein Gefühl von Verlust; seine Einsamkeit machte sich deutlicher bemerkbar und erfüllte ihn mit Trauer. Er bekam Lust, alle Hemmungen fallen zu lassen und einfach draufloszuheulen.

      Er schluckte ein paar Mal und ging weiter, blieb aber fast sofort wieder stehen, mitten in einem seiner wackligen Schritte.

      Das Böse ging zum Angriff über.

      »Leandersson?«

      Der Alte zuckte zusammen.

      Bildete er sich jetzt etwa auch noch ein, dass er Stimmen hörte?

      Konnte das sein?

      »Leandersson?«

      Jetzt bestand kein Zweifel mehr.

      Jemand hatte ihn angesprochen.

      »Ja?«, antwortete er, noch nicht ängstlich, nur erstaunt.

      Es kam sehr selten vor, dass er auf seinen Abendspaziergängen jemandem begegnete. Er hatte auch niemanden gesehen.

      Er blickte sich um, entdeckte aber niemanden.

      »Wer ist das?«

      Woher die Antwort kam, ließ sich unmöglich feststellen:

      »Nur ich.«

      »Und wer ist Ich?«

      »Der Graue.«

      »Der Graue?«, wiederholte Leandersson ungläubig.

      Er fand, dass die beiden Wörter merkwürdig im Schädel hallten. Plötzlich überfiel ihn die Furcht; etwas stimmte nicht, vielleicht etwas mit der Stimme. Sie klang so unnatürlich, so fremd. Wenn er gekonnt hätte, wäre er sofort geflohen, aber ihm war klar, dass er nicht besonders weit kommen würde. Mit keuchendem Atem lehnte er sich auf den Stock, auf das Schlimmste gefasst.

      Etwas stieg aus dem Wald und glitt langsam auf ihn zu.

      Der Alte versuchte, den schemenhaften Umriss schärfer ins Auge zu fassen, und spürte zugleich, wie sich sein Unbehagen in Entsetzen steigerte: Wer konnte das bloß sein?

      Die Ahnung einer Gefahr wuchs von Sekunde zu Sekunde.

      Die Schritte kamen näher.

      Wer war das? Wie sah er aus?

      Unerbittlich und drohend kam die Gestalt auf ihn zu, unscharf, wie in Nebel gehüllt – noch ließ sich nicht ein Gesichtszug desjenigen erkennen, der sich als der Graue bezeichnet