Die zehn Länder mit den meisten Todesfällen durch Covid-19 in den letzten Märztagen waren – in absteigender Reihenfolge – die USA, Italien, China, Spanien, Deutschland, Frankreich, der Iran, Großbritannien, die Schweiz und die Niederlande. Zufälligerweise schafften es – mit Ausnahme des Irans und der Schweiz – alle diese Länder auf die Top-Ten-Liste der für den größten Anteil an kumulativen CO2-Emissionen seit 1751 verantwortlichen Gebietseinheiten. Jene Länder, die im März 2020 am schlimmsten von der Pandemie betroffen zu sein schienen, waren somit dieselben Länder – allen voran die USA –, die am stärksten zum Klimanotstand beigetragen hatten: Und es scheint, als näherten wir uns damit einer möglichen Erklärung. Ein deutscher Liberaler drückte es folgendermaßen aus:
Dass Intensivstationen aus den Nähten platzen und keine hinreichende Zahl von Beatmungsgeräten verfügbar sein könnte [!], kam in unserer Vorstellungswelt nicht vor. Die Fantasie, mit hohem Fieber und Atemnot auf dem Flur einer überfüllten Klinik zu landen, ist der Horror. Bisher dachten wir: Das mag Alltag in Entwicklungsländern sein, vielleicht auch in Russland, aber doch nicht bei uns!
Und das änderte sozusagen alles. In Bezug auf Corona und Klima stellte die Zeitachse der Betroffenheit Reich und Arm an entgegengesetzte Enden: Im ersteren Fall veranlasste sie die Regierungen des Nordens, das Richtige zu tun; in letzterem, sich in einer Weise zu verhalten, die man wohl nur als bösartig bezeichnen kann. Vielleicht sollte die Menschheit Covid-19 dankbar sein, dass es sich seine Bahn zuerst durch Europa geschlagen hat.
Dies macht jedoch nur einen Teil der Erklärung aus, schließlich zeitigten die unterschiedlichen Zeitlichkeiten auch Konsequenzen für die Schuldtragenden. Als Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre die Parameter der Klimakrise festgelegt wurden – also zu jenem Zeitpunkt, da die Wissenschaft den Kinderschuhen entwachsen war, die Vereinten Nationen ihre Mitgliedstaaten anwiesen, die Emissionen zu senken, das Problem im öffentlichen Bewusstsein des Nordens verankert wurde und die ersten extremen Wetterereignisse, insbesondere die Hitzewelle 1988 in den USA, mit dieser Tendenz in Verbindung gebracht wurden –, setzte das fossile Kapital einen Präventivkrieg in Gang. Es scheute keine Mühen, die Mitigation zu sabotieren. Gleich, ob es schlichtweg an buchstäblicher Leugnung festhielt oder sich auf allerlei beschwichtigende Formen des grünen Kapitalismus verlagerte, begegnete es jedweder Initiative zugunsten einer tatsächlichen Reduktion mit Widerwillen. Seither wurden Maßnahmen zur bedarfsgerechten Emissionssenkung fehlgeleitet, zurückgewiesen, wurden durch unzählige Weisen nachjustiert, verloren ihren Fokus oder erschienen zunehmend als aussichtslose, bald schon wieder versandende Unterfangen – ja, ein Labyrinth voller vom Feind aufgestellter Fallgruben und -stricke.
Da es sich bei der globalen Erwärmung um einen lang andauernden Trend handelt, boten sich den Täter*innen nebst einer zunächst die Ärmsten treffenden Zeitachse der Betroffenheit ausgedehnte Möglichkeiten zur Obstruktion. Covid-19 erlaubte nichts dergleichen. Dermaßen überraschend trat das Virus auf den Plan, dass kein kapitalistisches Interesse zeitlich in der Lage war, Apparaturen ins Werk zu setzen, um der Aussetzung des business as usual entgegenzuwirken. Die Verbreitung des Virus erfolgte über den Reiseverkehr, und insofern ließe sich leicht vorstellen, dass von Ölgesellschaften gestützte Fluggesellschaften, Kreuzfahrtunternehmen und die Autoindustrien – die im Übrigen einen großen Anteil am fossilen Kapital besitzen – sich dazu bewogen gesehen hätten, den Stilllegungen zuvorzukommen oder sie zumindest abzumildern, so wie sie es bereits zuvor an der Klimafront getan hatten. Doch der Überraschungsangriff des Virus überwältigte selbst sie. Anstelle eigener Maßnahmen verbarrikadierten sie sich im Ausnahmezustand und warteten darauf, dass die Pandemie endlich besiegt würde, damit alles wieder zur alten Ordnung zurückkehren könnte. Zugegeben, es gab ein paar müde Versuche aus dieser Ecke, der Wirtschaft neuerlich Vorrang vor der Gesundheit einzuräumen, doch zumindest in der Anfangsphase wurden diese geflissentlich beiseitegewischt – eine Lektion in Sachen Politik als Kunst des Erstschlags oder, wenn man so will, des Manöverkriegs.
Covid-19 trat als eine allumfassende, augenblickliche und vollständige Sättigung aller Bereiche zutage. Wie ein Windstoß, der die getönten Scheiben eines Wolkenkratzers sprengt, entblößte es den Staat bis auf seine schmuckloseste, relative Autonomie. Die Regierungen im Norden waren in der seltenen Position, das Wohlergehen der kapitalistischen Volkswirtschaften zugunsten des Lebens ihrer älteren und allenfalls auch jüngeren Kohorten zu opfern. Dieser Moment brachte womöglich das Beste des modernen bürgerlichen Staates zum Vorschein – die Achtung vor dem Leben, die die Achtung vor dem Eigentum übertrumpft: ein Sieg für die egalitäre Prämisse, zu der sich die Demokratie verpflichtet (um der Selbstgefälligkeit nördlicher Demokratien jedoch den Wind ein wenig aus den Segeln zu nehmen, muss gesagt werden, dass China und der Iran schon weitaus früher ähnlich reagierten).
Wohin auch immer wir also blicken, stoßen wir stets auf zeitliche Differenzen: globale Erwärmung als lang andauerndes und stetiges Ereignis, Covid-19 als Schock. Das aber wirft zugleich die Möglichkeit auf, die Frage sei von Anfang an völlig falsch gestellt. Lassen sich die beiden denn überhaupt vergleichen? Ist das nicht ein bisschen so, als stellte man einer Stunde im Leben eines Menschen die gesamte Biografie eines anderen gegenüber? Wir werden in Kürze wieder auf dieses Problem zu sprechen kommen, wollen das Ganze zunächst jedoch noch um die räumliche Dimension ergänzen. Schließlich fügt sich die Zurückdrängung von Covid-19 in das übergeordnete Paradigma, welches die Politik des Nordens in den letzten Jahren erfasst hat: den Nationalismus. Dieser ließe sich durch Grenzschließungen, die Entsendung des Militärs zum Schutz vor Übertritten (Dänemark ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen), durch Förderung der Autarkie und die Abschottung vom Rest der Welt umsetzen. Die Vorteile solcher Maßnahmen kämen, soweit sie sich als effektiv erweisen würden, unmittelbar der nationalen Bevölkerung zugute. Ginge es jedoch um Emissionssenkungen, würden sich die Vorzüge über den ganzen Globus verbreiten – Kenianer*innen würden von starken Einschnitten in Deutschland genauso profitieren wie die Deutschen und noch einige andere. Die Suppression von CO2 ist nicht von Natur aus im Regelwerk des Nationalstaats enthalten. Der Krieg gegen Covid-19 ließe sich demnach gewissermaßen als klassischer Krieg begreifen, der sich all der Paraphernalien des patriotischen Stolzes bedient – eine Nation, die sich wie in früheren Zeiten der Gefahr selbst schützt; ein Volk, das sich im Rücken des staatlichen Bollwerks versteckt –, wohingegen ein Krieg gegen CO2 solch einen Rahmen tendenziell zu sprengen drohte. Es wäre ein Krieg zum Nutzen der eigenen und fremder Bevölkerungen. Doch zuallererst wäre es ein Krieg zugunsten der Armen.
Wechselnde Schattierungen des Extremismus
Corona und Klima teilen eine strukturelle Eigenschaft, die zum Vergleich einlädt: Die Summe der Todesopfer ist eine Funktion der Summe des Handelns oder Nichthandelns seitens der Staaten. Unbehandelt intensivieren sich beide Übel von selbst – je mehr Menschen infiziert sind, desto mehr werden sich infizieren; je heißer der Planet ist, desto mehr Rückkopplungsmechanismen heizen ihn weiter auf –, und haben sie erst einmal richtig Fahrt aufgenommen, besteht die einzige Möglichkeit, solch um sich greifende Brände abzublocken, darin, den Stecker zu ziehen. Staaten im Globalen Norden haben gerade den Beweis erbracht, dass dies möglich ist. Es wird nicht einfach sein, die Erinnerung daran wieder aus dem Gedächtnis zu tilgen.
Als Klimaaktivist*innen und Wissenschaftler*innen die Reduktion der Emissionen forderten, wurde ihnen gesagt, dass es zu teuer sei: Schließlich könnte es zu einer Verringerung des BIP um 0,1 oder