Mit jedem Törtchen, das ich aus der Box nahm, weiteten sich Samuels Augen ein bisschen mehr vor Verwunderung. Wahrscheinlich hörte ich mich an wie eine hysterische Bäckereifachverkäuferin.
»Ich glaube, ich hab doch keinen Hunger«, sagte er schließlich. Und ich war sehr dankbar, dass Echtzeit genau in diesem Moment zu spielen anfing.
Lulu, die noch immer keinen Ton herausgebracht hatte, fing sofort wie ferngesteuert an, im Takt der Musik mitzuwippen.
Lulu tanzt für ihr Leben gern und sie tanzt wie gesagt fantastisch, im Gegensatz zu mir – ich sehe auf der Tanzfläche aus, als stünde ich unter Starkstrom.
»Hast du vielleicht Lust zu tanzen?«, fragte Samuel sie, ganz klar in dem Bestreben, so schnell wie möglich von mir wegzukommen.
Lulu warf mir einen fragenden Blick zu, und als ich heftig nickte, lächelte sie Samuel glücklich an und steuerte mit ihm Richtung Tanzfläche. Somit hatte meine peinliche Aktion wenigstens etwas Gutes gehabt.
Als die zwei zwischen den vielen Leuten verschwunden waren, die mittlerweile die Tanzfläche verstopften und mir den Blick auf die Bühne versperrten, ließ ich als Allererstes die Tupperdose mit den Törtchen des Grauens unter dem Tisch verschwinden. Zwei weitere – saubere Törtchen – wanderten in meinen Mund.
Schließlich lehnte ich mich gegen das Buffet, betrachtete das Gedränge und wusste plötzlich nichts mehr mit mir anzufangen. Aus meiner Klasse konnte ich niemanden entdecken, mit dem ich Lust gehabt hätte zu quatschen. Ich wollte aber auch nicht von meinem Platz am Buffet weggehen, weil ich Sorge hatte, dass Lulu mich ansonsten nicht mehr finden würde.
Also lauschte ich dem Konzert von Echtzeit und sang im Kopf jeden einzelnen Song mit, denn ich konnte alle Texte auswendig. Abwesend spielte ich währenddessen mit der Halbkugel, die an der Kette um meinen Hals baumelte. Sacht fuhr ich mit dem Finger über die verschlungenen Gravuren und musterte sie erneut. Sie sahen wirklich aus wie Geheimzeichen aus Strichen und Punkten, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie zu bedeuten hatten. Vielleicht waren sie ja auch bloß als Verzierung gedacht. Das Zifferblatt zeigte Viertel vor acht, genau wie die große Uhr, die an der Querseite der Sporthalle hing.
Verstohlen seufzte ich. Ich hatte mich so auf die Party gefreut und darauf, unseren Geburtstag mit Lulu gemeinsam zu feiern. Doch jetzt war meine Freundin von Samuel entführt worden. Nicht dass ich es ihr missgönnte – im Gegenteil! Aber mir war, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig.
In diesem Moment begann die Band, ein neues Lied zu spielen, das ich noch nicht kannte. Es war eine langsame Ballade, die gerade perfekt zu meiner Stimmung passte. Ich lauschte Lucas’ toller tiefer Stimme und, ja, mein Herz fing schon wieder an zu flattern, obwohl ich Lucas wegen der vielen Leute gar nicht sehen konnte.
Gerade, als ich überlegte, ob ich mich doch lieber nach vorne drängen sollte, setzte eine Flöte ein. Sie griff die Melodie auf und trug sie sanft über die Köpfe hinweg zu mir. Ich wunderte mich. Die Jungs von Echtzeit spielten selbst geschriebenen Gitarren-Pop-Rock. Ich konnte mir keinen von ihnen mit einer Flöte vorstellen …
Doch dann machten ein paar Leute einen Schritt zur Seite, sodass ich einen Blick auf die Bühne erhaschen konnte. Und dort neben Lucas stand, mit geschlossenen Augen, als würde sie sich ganz der Musik hingeben: meine Stiefschwester.
4
Es gibt Situationen, in denen man glaubt, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen kann. Aber dann passiert kurz darauf garantiert etwas, das einen vom Gegenteil überzeugt. Wenn du im strömenden Regen dem Bus hinterherrennst, zum Beispiel, und der Fahrer vor deiner Nase die Türen schließt, brettert natürlich direkt hinter dem Bus ein Auto durch die Pfütze im Rinnstein, sodass du von oben bis unten nass gespritzt wirst.
Oder wenn du unbedingt eine Drei in Mathe schreiben musst, um deine Halbjahresnote zu retten, und dann leuchtet dir eine rote Vier entgegen. Dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass Frau Dr. No dir das falsche Heft zurückgegeben hat und unter deiner Mathearbeit eine Fünf steht.
Dieser Augenblick auf der Schulparty, als ich Sophie auf der Bühne neben Lucas entdeckte, war genau so ein Fall. Das wurde mir natürlich erst kurz darauf klar, nämlich als der Auftritt der Band vorbei war und Lucas zum Buffet kam – Seite an Seite mit Sophie. Lulu war immer noch irgendwo verschwunden, und ich hatte gerade beschlossen, sie zu suchen, um ihr zu sagen, dass ich den Bus nach Hause nehmen würde, als die beiden auftauchten.
Vor dem Buffet herrschte großes Gedränge und Lucas schien mich gar nicht zu bemerken, anders jedoch Sophie. Meine Stiefschwester steuerte direkt auf mich zu und Lucas folgte ihr brav.
»Hi, Claire«, begrüßte sie mich zuckersüß, als hätte sie nicht erst vorhin auf dem Schulhof spitze Bemerkungen über mein gestörtes Verhältnis zur Schwerkraft fallen lassen.
»Das ist Lucas.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie uns einander vorstellen. »Aber das weißt du ja bestimmt.« Manchmal war meine Stiefschwester wirklich nicht zu toppen. Tat so, als müsste sie mich mit dem Bruder meiner besten Freundin bekannt machen. Dabei ging es ihr ganz offensichtlich bloß darum, mir unter die Nase zu reiben, dass sie neuerdings dicke Kumpel waren. Oder sogar mehr … Ich fragte mich bloß, warum! Denn eigentlich konnte Sophie nichts von meinem bestgehüteten Geheimnis wissen.
»Lucas hat mich nach dem Weihnachtskonzert gefragt, ob ich bei Echtzeit mitmachen möchte, weißt du«, fuhr sie erbarmungslos fort.
Das Weihnachtskonzert, na klar! Dabei waren der Schulchor und das Orchester, in dem Sophie natürlich spielte, zusammen mit Lucas’ Band aufgetreten. Ich persönlich hätte mich für nichts auf der Welt überreden lassen, ebenfalls dort zu stehen. Mich öffentlich vor Publikum zu präsentieren, grenzte für mich an schwere Folter. Was vermutlich der Grund war, warum Sophie nun bei Echtzeit mit dabei sein durfte und Lucas mich niemals wahrnehmen würde.
Dabei sang ich gerne, aber ich tat das ausschließlich und exklusiv unter der Dusche. Lulu war die Einzige, die mich jemals gehört hatte, als ich bei ihr übernachtet hatte und dachte, dass sie noch schlief. Und obwohl sie immer wieder darauf beharrte, dass ich so ähnlich klang wie Adele und mindestens so begabt sei, weigerte ich mich strikt, auch nur in die Nähe einer Probe unseres Schulchors zu kommen.
»Jedenfalls fand ich, dass es eine gute Idee sein könnte, vor allem, weil Lucas extra dieses Lied für mich geschrieben hat.« Sie lächelte in seine Richtung und ich hätte am liebsten laut geschrien. Dass Lucas diesen wunderschönen Song extra für Sophie geschrieben haben sollte, fühlte sich an wie ein Dorn, der sich mir direkt ins Herz bohren wollte.
Lucas bekam von all dem nichts mit, denn er war schwer damit beschäftigt, Löcher in die Luft neben meinem Kopf zu starren. Unser Gespräch beziehungsweise Sophies Monolog schien ihn nicht übermäßig zu interessieren.
»Ich hol mir mal was zu trinken«, erklärte er und ging weg, drehte sich aber nach ein paar Schritten noch einmal um. »Soll ich dir was mitbringen?«, fragte er Sophie – nicht mich natürlich.
»Eine Cola light, bitte.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, in das eine Gurke quer gepasst hätte.
Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen, und mein Blick glitt zu Boden, weil ich Sophies selbstzufriedenes Gurkengrinsen nicht ertrug. Da entdeckte ich das Mohn-Sahnetörtchen, das ich Samuel vorhin aus der Hand geschlagen hatte, direkt neben der Spitze von Sophies hochhackigen Sandalen.
Was hätte ich darum gegeben, wenn Sophie in diesem Moment einen kleinen Schritt zur Seite gemacht hätte. Sahnecreme, die durch die Riemchen der Sandalen quoll, wäre genau der Anblick gewesen, der die Qualen meiner Seele ein klein wenig hätte lindern können. Aber natürlich machte sie keinen Schritt zur Seite. Meiner Stiefschwester passieren solche Missgeschicke einfach nicht.
Ich bückte mich, um das Törtchen aufzuheben und bei nächster Gelegenheit im Müll zu entsorgen. Eine willkommene Ablenkung, um dem Gurkengrinsen noch einen Moment länger zu entgehen, aber als ich wieder