»Krass, oder?«, fragte sie voller Begeisterung.
»Definitiv krass«, gab ich mich geschlagen, allerdings mit deutlich weniger Begeisterung. Ich wollte gern eine logische, wenn möglich weniger abenteuerliche Erklärung. Lulu leider nicht.
»Die einzige Frage, die bleibt, lautet also: Was muss man machen, damit es passiert?«
Ich atmete tief durch. Das klang auf jeden Fall zu sehr nach Abenteuer für meinen Geschmack.
»Lulu«, versuchte ich, meine Freundin zu besänftigen. »Wir wissen doch überhaupt nicht, ob es noch mal funktioniert.«
»Dann lass es uns ausprobieren.« Lulu schäumte fast über vor Tatendrang.
»Jetzt?« Ich schaute an mir hinunter. Ich saß in einem Pu-Bär-Schlafshirt auf meinem Bett und hatte bisher nicht einmal gefrühstückt. Als wäre ihm dieses Versäumnis auch soeben bewusst geworden, knurrte mein Magen lautstark. Der Duft von frischem Kaffee, der aus der Küche zu uns heraufzog, schien mir mit einem Mal übermächtig verlockend zu sein.
»Klar, jetzt.« Lulu ignorierte das Flehen meines Magens. »Warum nicht jetzt?«
»Frühstück ist fertig«, flötete Sylvia gut gelaunt in diesem Augenblick aus der Küche herauf.
»Bin im Bad«, flötete Sophie zurück.
»Komme«, rief mein Vater, dessen Stimme eher Ähnlichkeit mit einer Tuba als mit einer Flöte hatte.
»Wollen wir nicht erst einmal etwas essen?«, schlug ich vor. »Sonst wird der Kaffee kalt.«
Doch Lulu durchschaute mich mühelos und ließ sich nicht erweichen. »Du bist manchmal so ein Angsthase«, zog sie mich auf. »Was soll schon groß passieren?«
»Keine Ahnung! Das ist ja das Problem.«
»Clairchen, komm schon. Riskier mal was.« Lulu rutschte wieder so nah neben mich, dass sich unsere Schultern berührten, und stupste mich sanft an.
»Aber wenn wir jetzt die Zeit zurückdrehen, auf gestern Abend zum Beispiel, und dann tauche ich in diesem peinlichen Nachthemd auf der Schulparty auf, dann wäre das der schlimmste Albtraum, den man sich nur vorstellen kann«, sprudelte ich hervor.
»Ach was!« Lulu schnappte sich meine Hälfte des Anhängers, ohne auf meinen Protest zu reagieren, und presste sie gegen ihre Hälfte.
Nichts geschah.
»Verflixt. So einfach ist es also nicht.«
»Nein, so einfach ist es nicht.« Ich wand Lulu meine Kette wieder aus der Hand. »Und weil wir keine Ahnung haben, wie es funktioniert, lassen wir es schön bleiben, verstanden?«
»Okay, was haben wir gemacht, bevor es passiert ist?« Lulu schien meinen Einwand gar nicht gehört zu haben.
»Verstanden?«, wiederholte ich.
»Hm, ja, schon gut.« Hoch konzentriert musterte meine Freundin ihren Anhänger. Mit dem Finger fuhr sie die Gravur nach, genau wie ich es am Abend zuvor getan hatte. »Ich war schrecklich unglücklich, weil Samuel die Doppel-Ds eingeladen hatte, und dann hab ich gesagt, dass ich am liebsten die Zeit zurückdrehen würde und dann …« Lulu grübelte und ich wollte sie am liebsten schütteln.
»He, du hast gerade zugestimmt, es nicht auszuprobieren«, versuchte ich sie zu erinnern, aber genauso gut hätte ich gegen eine Wand reden können.
»Und dann hab ich an den Zeigern gedreht«, erklärte sie triumphierend. »Genau, das war es. Ganz einfach. Bloß an den Zeigern drehen.« Ihr Finger schwebte über dem winzigen Zifferblatt. »Fünf Minuten, das sollte erst mal reichen.«
Und damit drehte sie an dem Zeiger und kniff fest die Augen zusammen. Und wieder geschah … nichts.
»Mist, so funktioniert es also auch nicht.« Lulu schnaufte.
»Nein, so funktioniert es auch nicht.« Ich betonte jedes Wort. »Weil es gar nicht funktionieren soll!«
»Nur mit einer Hälfte geht es wahrscheinlich nicht. Man muss erst drehen und danach die Teile zusammenfügen«, überlegte sie laut. »Los, gib mir deine Hälfte.«
»Nein, jetzt hör schon auf«, protestierte ich schwach. Doch da schnappte Lulu sich bereits meine Hand, mit der ich den Anhänger festhielt.
»Komm schon, Süße«, bettelte sie und wob ihre Finger in meine. Die Halbkugeln rutschten aus unseren beiden Händen und schienen sich im Fallen erneut magnetisch anzuziehen.
Ich ahnte den Stromschlag, bevor ich ihn tatsächlich spürte, und noch bevor ich den Schmerz registriert hatte, war er schon wieder vorbei.
»Wahnsinn«, jubelte Lulu.
Ich schnaufte.
»Und wie willst du jetzt kontrollieren, ob es wirklich geklappt hat?«, murrte ich.
In diesem Moment erklang Sylvias viel zu gut gelaunte Stimme: »Frühstück ist fertig.«
Und dann meine Stiefschwester: »Bin im Bad.«
Und mein Vater: »Komme.«
»Wahnsinn«, triumphierte Lulu.
»Absoluter Wahnsinn«, knurrte ich.
Aber als Lulu mir um den Hals fiel und mich immer wieder drückte, konnte ich ihr nicht mehr böse sein. Zumal ich ziemlich erleichtert war, dass ich nicht in meinem Schlafshirt auf der Schulparty gelandet war.
»Das ist einfach un-fass-bar. Genau wie bei Harry Potter! Wir können zaubern.« Lulu sprang auf und tanzte durchs Zimmer. »Wir. Können. Die. Zeit. Zurück. Drehen.« Bei jedem Wort vollführte sie eine Pirouette.
»Na ja, nicht ganz wie bei Harry Potter«, wandte ich ein. »Wir sind ja nicht doppelt da.« Doch Lulu ging auf meinen Einwand gar nicht ein.
»Clairchen, das ist der Hammer! Deine Omi war der Hammer! Vererbt dir einfach so einen magischen Anhänger. Mit. Dem. Man. Die. Zeit. Zurück. Drehen. Kann.«
Mir wurde ganz schwindelig von Lulus vielen Drehungen. Vor allem wurde mir schwindelig, wenn ich zu begreifen versuchte, was gerade passiert war. Und was das bedeutete. Ehrlich gesagt, war mir das gerade zu viel. Das musste ich erst mal verdauen.
»Können wir im zweiten Anlauf dann endlich frühstücken?«, schlug ich vor.
»Klingt gut.« Lulu hüpfte voller Energie zurück aufs Bett und zog mich hoch. »Das ist eine super Gelegenheit, um deinen Vater über diesen Anhänger auszuquetschen. Vielleicht weiß er ja doch mehr, als er bisher zugegeben hat.«
»Ich weiß nicht«, versuchte ich, Lulu zu bremsen. »Das Ganze ist so verrückt, vielleicht behalten wir es besser erst mal für uns.« Selbst wenn mein Vater mehr über die seltsamen Kräfte des Schmuckstücks wusste, war ein Familienfrühstück sicher nicht der beste Zeitpunkt, um ihn danach zu fragen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass meine Stiefmutter dafür sorgen würde, dass Lulu und ich auf einer geschlossenen Station landeten, wenn wir behaupteten, die Zeit zurückdrehen zu können.
»Okay. Mein Mund ist versiegelt.« Lulu machte eine Geste mit der Hand über die Lippen, als wollte sie einen Reißverschluss schließen. Ich hoffte bloß, dass dieses Versprechen ihre Neugier überwiegen würde.
7
Schon ein normales Sonntagsfrühstück im Hause Fischer war eine anstrengende Angelegenheit. Es war das einzige Frühstück mit der ganzen Familie, weil mein Vater unter der Woche meist auf Dienstreise war und meine Stiefmutter und Sophie dann bloß einen giftgrünen Power-Smoothie zu sich nahmen.
Sonntags deckte Sylvia den Tisch, als würde sie einen Reporter von »Schöner Wohnen« erwarten, um meinen Vater mit gestärkten Servietten und üppigen Blumen über das magere