Schritte in der Nacht. Anny von Panhuys. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anny von Panhuys
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711570272
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      Anny von Panhuys

      Schritte in der Nacht

      Roman

      Saga

      Schritte in der Nacht

      © 1952 Anny von Panhuys

      Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

      All rights reserved

      ISBN: 9788711570272

      1. Ebook-Auflage, 2017

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

      1.

      Die alte Komtesse Franziska von Wergenheim pflegte sich früh zur Ruhe zu begeben. Um Mitternacht wachte sie meist schon aus dem ersten Schlafe auf. Die Klosterkirche schlug zwölfmal. Es klang wie ein heiseres misslauniges Belfern.

      Nachdem der letzte Ton nörgelnd verklungen, war alles wieder totenstill. Die Häuschen in der Liliengasse brauchten sich nie über Unruhe zu beklagen, weder bei Tag noch bei Nacht, es herrschte in ihr immer Schweigen. Ein lauter Kinderruf am Tag fiel auf, und wenn ein Auto hindurchfuhr, wirkte es wie Anachronismus. Ein Auto mit seinen modernen Geräuschen passte nicht in die Liliengasse, die hinter dem alten Kloster lag, und in der es nur ein- und zweistöckige Villen gab, von denen keine jünger war als hundert Jahre.

      Die kleine Stadt Wernersruhe im Odenwald war Anno dazumal Residenz gewesen, und in der Liliengasse hatten die Hofschranzen gewohnt. Es roch noch heute hier nach Vornehmheit.

      Unweit der Liliengasse befand sich das alte herzogliche Schloss, das letzthin von der Stadt an einen Autofabrikanten verkauft worden war, und es hiess, er unterhandle weiter mit der Stadt, weil er auch das Kloster anzukaufen beabsichtige. Es sollte Autofabrik werden.

      Ueber diese Neuigkeit war die ganze Liliengasse in Aufregung geraten. Alle die alten Beamten und Militärs, alle die alten Damen mit vornehmen Namen und Auftreten, alle, in deren Adern noch Blut von denen war, die hier einmal zum Hofe gehört hatten.

      Am meisten hatte die Nachricht auf die alte Komtesse von Wergenheim gewirkt. Sie dachte tagsüber kaum noch an etwas anderes, und der Gedanke, in dem Kloster von Sankta Anna würde nun in kurzem vielleicht das Gelärme einer grossen Fabrik laut werden, schien ihr schrecklicher als der Weltuntergang. Wenn sie nachts aufwachte, war das ihr erster Gedanke.

      Sie hob sich ein wenig in den Kissen und horchte. Draussen über das alte Katzenkopfpflaster ging es: klapp! klapp! Schnelle Frauenfüsse schienen durch die Liliengasse zu eilen.

      Klapp! Klapp! klang es immer lauter, und die alte Komtesse flüsterte: Man meint, sie wäre es wirklich! Ein Schauer glitt über ihren kleinen schmalen Körper. Sie fror plötzlich und zog die Bettdecke bis über die Augen.

      Sie wollte das Klapp! Klapp! nicht mehr hören, es hatte etwas Unheimliches, etwas Beängstigendes für sie.

      Sie schlief mit Herzklopfen ein.

      Punkt acht Uhr im Sommer und Winter wurde in der Villa Wergenheim gefrühstückt. Gisela von Wergenheim, im einfachen blau und weiss gestreiften Kattunkleid, stand am Frühstückstisch und legte die Löffelchen zurecht, schob die silberne Gebäckschale ein wenig anders und blickte nach der Tür. Es war eben acht, und mit dem letzten Glockenschlage trat Tante Franziska gewöhnlich ein. Heute aber verstrichen noch zehn Minuten, ehe die Erwartete kam.

      Gisela, die ihre Bekannten Gisa nannten, wollte schon nach der Erwarteten sehen, als die Tür aufging und die alte Dame eintrat. Sie nahm Gisas allmorgendlichen Handkuss entgegen und setzte sich. Wie ein Gnomenweibchen sah die Komtesse aus, und das lange graue Kleid erhöhte noch die Aehnlichkeit. Sie hatte ein schmales, vornehmes Gesicht und lebhafte dunkle Augen; aber das sehr dünne Haar unter dem Häubchen hatte schon einen leicht grünlichen Schimmer. Die seltene Patina, die weisses Haar bei ganz alten Menschen manchmal annimmt.

      Franziska Wergenheim war zweiundneunzig Jahre alt und die Urgrosstante von Gisa, die weiter keinen Menschen mehr auf der Welt besass. Aber das Gnomenweibchen hatte noch ein gutes Gehör, konnte gut sehen und besass ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

      Gisa schenkte der alten Dame den Kaffee ein, fügte Milch hinzu und Zucker, legte ihr das weiche Gebäck zurecht und sagte zärtlich:

      „Du hast dich heute ein wenig verspätet, Tantchen. Hoffentlich hast du gut geschlafen?“

      Franziska Wergenheim zuckte die Achseln.

      „Nicht so besonders, Kind, ich habe unserer Lina erst um ein Viertel vor acht geklingelt, dass sie mir beim Ankleiden helfen sollte.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Ach, Gisa, nachts sieht man alles anders an als am Tage, und ich habe mich heute nacht ein wenig gefürchtet. Ich wachte um Mitternacht auf, und bald darauf vernahm ich laute Schritte in unserer Gasse. Es war, als wenn hochhackige Schuhchen über das Pflaster liefen. Und da musste ich an die alte Geschichte denken, die an der Liliengasse hängt, und ich redete mir tatsächlich ein, die Schritte in der Nacht ständen im Zusammenhang mit der Mörderin des Erbprinzen Otto, die ihn erwürgte und dafür durch Henkershand sterben musste. Sie soll doch oft nächtlich hier geistern, und immer wieder wird von Zeit zu Zeit behauptet, sie liefe nach Mitternacht durch die Gasse; man höre ihre hohen Holzhacken aufklappern, und viele wollen die Unselige auch schon gesehen haben. Ich glaube natürlich am hellen lichten Tag nicht an dergleichen; aber nachts erscheint einem alles möglich.“ Sie lächelte ein wenig. „Sagen und Spuk und Geister gewinnen um die Mitternachtsstunde herum sehr an Glaubwürdigkeit.“

      Gisas feines Gesicht war ernst.

      „Es war ein Mädchen aus dem Volke, die Tochter eines Schlossdieners, mit der Erbprinz Otto eine Liebschaft unterhielt, und die er dann rücksichtslos beiseite schob, als er ihrer überdrüssig geworden und sich einer anderen zuwandte; nicht wahr, Tantchen?“

      Die alte Dame nickte.

      „Ja, Gisa, aber das Mädel hätte sich doch sagen müssen, dass der Erbprinz ihr nicht treu bleiben konnte, ganz abgesehen davon, dass es seiner Natur nicht lag. Meine Grossmutter hat ihn noch gekannt, und gerade vor unserem Hause ist das Grässliche passiert. Das Mädchen hiess Magdalene Karsten und soll sehr schön gewesen sein.“ Sie hüstelte. „Aber lassen wir das Thema. Viel mehr interessiert es mich, darüber zu reden, ob sich das Gerücht wirklich bewahrheitet, dass Sankta Anna eine Autofabrik werden soll.“

      Gisa nickte: „Soviel ich hörte, ist es sicher, Tantchen.“

      „Es wäre entsetzlich! Es wäre katastrophal!“ erregte sich die alte Dame.

      Gisa erwiderte leise und beruhigend: „Wir werden uns daran gewöhnen, und dann, Tantchen, stört es vielleicht auch gar nicht so sehr, wie du fürchtest. Die sehr hohe Mauer des Klosterhofes verhütet ja, dass wir etwas von dem Fabrikbetrieb sehen werden.“

      „Das ist auch der einzige Trost“, gab Franziska Wergenheim zurück.

      Gisa nickte; aber sie dachte ganz anders als die alte Dame. Sie freute sich fast darauf, dass die verschlafene Liliengasse ein bisschen aufgerüttelt würde. Gisas zwanzig Jahre wehrten sich gegen die Totenstille der kleinen Strasse. Sie musste oft denken, es sei, als lebe man auf einem Friedhof. Sie sehnte sich nach dem Leben, das es fernab von diesem weltvergessenen Städtchen gab, und hätte ihr die alte Dame nicht leid getan, hätte sie sie längst gebeten: Lass mich ein Weilchen von hier fort. Ich bin jung und möchte wissen, wie es dort aussieht, wo es keine Liliengasse und kein altes Kloster gibt, wo der Odem des Lebens stärker ist und man sich das Leisesprechen wieder abgewöhnt!

      Aber die Urgrosstante war zweiundneunzig Jahre und brauchte sie. Das durfte sie nicht vergessen. Und ihr Alter war keinem neuen Gedanken mehr zugänglich.

      Gisa hätte so gern irgendeine Bürostelle