Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jonathan Wilson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783730704479
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hinten stand, die englische Abwehr sich unter die schottischen Stürmer mischte und diese dann in schöner Regelmäßigkeit keine 20 Meter vor ihrem eigenen Tor ins Abseits stellte.“ Zwar verloren die Engländer trotzdem mit 1:2, doch der Aufschrei im fußballerischen Establishment ließ nicht lange auf sich warten. „Das Spiel mit einem Verteidiger, wie es seitens der Engländer praktiziert wurde, gilt im Vereinsfußball immer als verwerflicher Zug“, hieß es in einem anderen Bericht. „Dennoch bleibt auch bei einer Nationalauswahl die Frage offen, ob es von sportsmännischem Verhalten zeugt, wenn man auf einen solchen Akt der Verzweiflung zurückgreift, um die Zahl der Treffer niedrig zu halten.“ Harris, der England in allen drei 1906 bestrittenen Spielen als Kapitän aufs Feld geführt hatte, lief nie wieder für sein Land auf. Im Jahr darauf wurde die Abseitsregel dahingehend geändert, dass kein Spieler mehr in der eigenen Hälfte im Abseits stehen konnte.

      Doch nachdem die Idee der Abseitsfalle erst einmal in der Welt war, ließ sich das Rad nicht mehr zurückdrehen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fand die List zunehmend Verbreitung. Die Verteidiger Herbert Morley und Jock Montgomery, die zusammen bei Notts County spielten, waren darin Pioniere. Doch am meisten wurde die Abseitsfalle mit dem erwähnten Bill McCracken in Verbindung gebracht. Zeitgenössische Cartoons zeigen ihn frohlockend in die Hände klatschen, weil er wieder mal einen Abseitspfiff zu seinen Gunsten bekommen hat.

      Heutzutage denkt man beim Begriff Abseitsfalle eher an Arsenal zu Zeiten von Trainer George Graham, und es erscheinen Bilder der Viererabwehrkette vor dem geistigen Auge, wie sie perfekt auf einer Linie die Arme nach oben reißt. Vor 1925 funktionierte die Abseitsfalle allerdings nach völlig anderen Grundregeln, weil die beiden Verteidiger, wenn überhaupt, nur selten auf einer Linie spielten. Hauptvertreter dieses gestaffelten Systems waren West Broms Jesse Pennington und Blackburns Bob Crompton, die vor dem Ersten Weltkrieg erstaunliche 23-mal gemeinsam für England spielten. „Während Crompton ein gutes Stück nach hinten geht, rückt der Mann von West Bromwich auf dem Feld weiter nach vorn – mitunter ein ganz beträchtliches Stück, bis er die Erscheinung eines vierten Läufers abgibt“, erklärte Stürmer Charlie Wallace von Aston Villa. „Ihm eigen ist die verwegene Spielweise eines Abwehrmannes. Obgleich dieses Vorrücken mitunter bedeutet, dass er einen schnellen Lauf tun muss, um einen Spieler abzufangen, ermöglicht es im Zusammenwirken mit der Sicherheitstaktik Cromptons dem Duo doch häufig, einen Angriff bereits an seinem Ausgangspunkt zu unterbrechen. Denn Pennington befindet sich dann an dem Ort, wo ihn der Stürmer am wenigsten erwartet.“

      Die Abseitsregel, die drei verteidigende Spieler vorschrieb, damit ein Angreifer nicht im Abseits stand, hatte zur Folge, dass die Angreifer ihr Stellungsspiel an dem weiter vorne stehenden Verteidiger ausrichten mussten, während der zweite Verteidiger folglich als Ausputzer agieren konnte. Newcastles McCracken hatte über die Jahre zahlreiche Partner, von denen der erwähnte Hudspeth der bekannteste war. „Natürlich bekomme ich zu hören, dass McCrackens Methode dem Fußball nicht gut tut, verdirbt sein Einfallsreichtum doch nicht eben wenige Partien“, schrieb Hudspeth in einer Verteidigung der Abseitsfalle im Sheffield Telegraph and Star Sports Special. „Doch genau hier liegt der Fehler. Es sind nicht die Methoden McCrackens, welche die Spiele verderben. Die Spiele werden verdorben, weil die gegnerischen Angreifer sich nicht die Mühe machen wollen, Maßnahmen zu ersinnen, welche diese Abseitstaktiken zunichtemachen. Nun gibt es doch aber eine famose Aufhebungsklausel zur Abseitsregel, welche die Angreifer ständig und nur zu gerne zu vergessen scheinen. Bleiben sie nämlich hinter dem Balle, können sie nicht im Abseits stehen, gleichgültig, ob McCracken herausläuft oder sonst etwas tut.“

      Doch die Funktionäre waren besorgt. 1921 kam es zu einer weiteren Optimierung der Regel. Nun war es nicht mehr möglich, dass ein Spieler nach einem Einwurf abseits stand. Spätestens 1925 war dann offensichtlich, dass noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden mussten. Die FA schlug zwei mögliche Lösungen vor: Nach der ersten sollten sich nur noch zwei Spieler vor dem Angreifer befinden müssen; der zweiten zufolge wäre in jeder Spielhälfte eine zusätzliche Linie 36,5 Meter vor dem Tor eingezogen worden, hinter welcher der Angreifer nicht abseits stand. Sogleich machte sich die FA daran, beide Regeln in einer Reihe von Schaukämpfen zu testen. Man spielte eine Halbzeit lang mit der ersten und während der anderen mit der zweiten Variante.

      Im Juni 1925 entschied die FA dann auf einer Tagung in London, jener Variante den Vorzug zu geben, bei der zwei verteidigende Spieler zur Aufhebung des Abseits genügten. Der schottische Verband übernahm die Änderung bald darauf ebenfalls und brachte die Regeländerung auch als Vorschlag beim International Board ein. Zur Saison 1925/26 wurde die neue Regel dann eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte eine mit Abseitsfalle spielende Mannschaft einen Verteidiger zur Absicherung zurückbehalten können, wenn sein Nebenmann zum Abfangen eines Angreifers vorstieß. Unter der neuen Regel bestand nun das Risiko, dass eine Fehleinschätzung der Situation zu einer Eins-zu-eins-Situation zwischen Angreifer und Torhüter führte.

      Oberflächlich betrachtet, war die Regeländerung ein sofortiger Erfolg. Die durchschnittliche Zahl der Tore pro Spiel erhöhte sich auf 3,69. Die Änderung rief jedoch auch tiefgreifende Veränderungen in der Spielweise hervor und führte zur Entwicklung des „dritten Verteidigers“ bzw. W-M-Systems durch Herbert Chapman – eine Entwicklung, die nach weitverbreiteter Meinung zum Niedergang und zunehmend unansehnlichen Charakter des britischen Fußballs führte.

      Am nachdrücklichsten vertrat diese These Hugo Meisls jüngerer Bruder Willy in seinem Buch Soccer Revolution, das als Reaktion auf Englands 1953 erlittene 3:6-Niederlage gegen Ungarn entstand. Meisl war bereits ein glühender Verehrer Englands gewesen, bevor er vor dem wachsenden Antisemitismus in Österreich floh und sich in London niederließ. In seinem Buch trauert er dementsprechend der alten Zeit nach, die er aber tatsächlich nur aus Erzählungen kannte und wahrscheinlich idealisierte. Meisl war zwar eine geachtete Persönlichkeit im Sportjournalismus – er berichtete hauptsächlich für ausländische Medien über den englischen Fußball –, doch zumindest für den heutigen Leser stellt Soccer Revolution eine äußerst exzentrische, wenn auch gut geschriebene Arbeit dar. Aus Meisls Sicht entsprach die Änderung der Abseitsregel dem Sündenfall des Fußballs, mit ihr sei seine Unschuld verloren gegangen, und der Kommerz habe den Sieg davongetragen. Vielleicht ist da sogar etwas dran. Allerdings war sie höchstens der Beginn einer Entwicklung, die inzwischen gewaltige Ausmaße annimmt.

      Willy Meisl war nicht weniger romantisch als sein Bruder. Seiner Auffassung nach hatten die bornierten Vereinsbosse, deren einziges Interesse den Bilanzen galt, für die Schwächen des Fußballs einfach die Regeln verantwortlich gemacht. Daran, dass sie sich womöglich einer „falschen Denkweise bezüglich des Spiels schuldig machten“, hätten sie dagegen niemals einen Gedanken verschwendet. Also hätten sie eine Politik durchgesetzt, die „für den Laien wie eine kleine Verbesserung der Spielregeln ausgesehen haben mochte“, die sich jedoch „als der Knall eines Schusses erwies, der eine Lawine in Gang setzte“.

      An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Mal die Kluft zwischen erfolgreichem und schönem Fußball. Heutzutage spielt diese Debatte nur noch eine nebensächliche Rolle. In den 1920er Jahren allerdings war sie lebendig genug, um die Idee einer Liga als solche – eines „Alptraums“, wie Brian Glanville tönte – in Frage zu stellen. „Die durchschnittliche Qualität eines Spiels würde sich deutlich erhöhen, wenn das Ergebnis nicht das einzig wichtige Ziel eines Spieles wäre“, räumte auch Chapman ein. „Die Angst vor der Niederlage und dem Punktverlust zerstören das Selbstvertrauen der Spieler. … Unter entsprechend guten Rahmenbedingungen wären die Profis wesentlich leistungsfähiger, als man annehmen möchte. Es scheint also, dass wir die Bedeutung von Siegen und Punkten minimieren müssen, wenn wir besseren Fußball sehen wollen.“ Und der ehemalige Spurs-Kapitän Danny Blanchflower meinte, dass es „ein großer Trugschluss [sei], dass es sich beim Fußball in erster Linie ums Gewinnen dreht; es geht um Ruhm, darum, die Dinge mit Stil zu tun.“

      Aber selbst wenn man dem zustimmt, wollte man die Entscheidung doch trotzdem nicht einer Jury überlassen, die wie beim Eiskunstlauf Noten von eins bis zehn vergibt. Es ist nun mal eine traurige Wahrheit, dass diejenigen, die gewinnen wollen, sich auch unattraktiver Methoden bedienen. Selbst die Argentinier begannen nach den glorreichen Zeiten von La Nuestra damit, und die Österreicher hätten es trotz ihres ästhetischen Bewusstseins wohl ebenso getan, wäre ihnen