Eine Brücke für Joachim. Angelika Kutsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Angelika Kutsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711447390
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und ein rotgesichtiger junger Mann mit strähnigem Haar beugte sich heraus. »Entweder willst du einen Autostop oder du willst nicht!«

      Agnes rieb sich den Knöchel. »Ich will nicht«, sagte sie unfreundlich. »Kann man nicht einmal ungestört spazierengehen?«

      Der junge Mann schnaubte durch die Nase. »Die Landstraße ist doch kein Trampfelpfad!« Er gab Gas und fuhr davon.

      Agnes hatte immer noch Herzklopfen. Sie war böse auf sich selbst, weil sie immer noch Angst vor Autos hatte. Vor Schreck in einen Straßengraben zu springen! Sie schielte zum Dorf, ob jemand den beschämenden Vorfall gesehen hatte. Der Schulhof war jetzt leer. Der kleine Zeitschriftenkiosk mit dem dunklen Guckloch zwischen den bunten Zeitschriften sah aus wie ein höhnischer Beobachter.

      Entschlossen ging sie auf den Kiosk zu. Niemand sollte denken, daß sie sich genierte. Sie rückte die verrutschte Sonnenbrille zurecht und betrachtete die Titelbilder. Zwischen all dem nackten Fleisch auf dem Papier, angeklebten Wimpern und gelackten Lippen entdeckte sie ein lebendiges Gesicht. Hinter den dunklen Gläsern fühlte sie sich wie unter einer Tarnkappe und musterte den Zeitungsverkäufer neugierig. Es war ein hübscher junger Mann mit dunklen Locken und hellen Augen. Nur die zusammengewachsenen Augenbrauen gaben ihm ein etwas düstres Aussehen. Er mußte ihren Blick doch bemerkt haben, denn er lächelte plötzlich und sagte: »Werfen Sie sich immer in den Straßengraben, wenn ein Auto kommt?«

      Agnes versuchte, auf den Ton einzugehen. »Man weiß ja nie, ob der Fahrer nicht gerade schläft.«

      »Sie brauchen keine Angst zu haben! Sogar auf dem Lande haben alle Fahrer einen Führerschein!«

      Der ironische Ton gefiel ihr nicht. Ausgerechnet der einzige junge Mann des Dorfes schien ein Fiesling zu sein. Wie er sie ansah! Spöttisch, hochmütig, als sei nicht er ein Dorfbewohner sondern sie. Zur Strafe dürfte sie jetzt eigentlich nichts bei ihm kaufen. Sie suchte nach etwas Ausgefallenem, etwas, das er bestimmt nicht zu bieten hatte. Aber die Zeiten waren vorbei, daß ein Großstädter sich etwas auf seine Zeitung einbilden konnte, die es in keinem Dorf zu kaufen gab.

      Der junge Mann beobachtete sie amüsiert. Um ihr die Wahl zu erleichtern, blätterte er ihr eine Reihe Heftchen vor, Comics, Krimis und Liebesromane. »Heute neu gekommen«, versicherte er, als habe er frischen Fisch zu verkaufen.

      Agnes wurde wütend. Für was hielt er sie eigentlich? »Geben Sie mir eine Lokalzeitung«, sagte sie und legte alle Verachtung in das Wort »Lokalzeitung«.

      »Die können Sie sich ersparen! Hier ist wirklich nichts los!«

      »Eine Lokalzeitung«, wiederholte Agnes kühl. Sie wich seinem Blick aus. Wenigstens seine Hände waren hübsch, lang und schmal, fast ein bißchen zu zart. Aber die Hände söhnten sie nicht mit seiner spitzen Zunge aus. Außerdem strich er die Geldstücke ein, als seien sie schmutzig. Beleidigt ging Agnes davon.

      »Auf Wiedersehen«, sagte er leise.

      Agnes war ganz erschöpft, als sie bei Brodersens ankam. Sie setzte sich an den Küchentisch und trank den letzten Rest Kaffee, der jetzt bitter und scheußlich schmeckte. Nach einer Weile kam Ulla nach Hause. Sie riß die Küchentür auf, schleuderte ihre Schultasche in die Ecke neben dem Kühlschrank und starrte Agnes wortlos an.

      Unter ihrem Blick fühlte Agnes sich wie ein Eindringling. Unsicher stand sie auf. »Hast du viele Schularbeiten zu machen?«

      »Ja.«

      »Ich könnte dir helfen!«

      »Die mach’ ich jeden Tag allein!«

      »Und – was tust du sonst so?« fragte Agnes weiter.

      Ulla kniff die Augen zusammen und schwieg.

      »Du«, sagte Agnes, »ich glaube, du magst Pensionsgäste nicht, oder?«

      »Sie fragen so viel!« Die Antwort kam heftig. »Gehst du gern zur Schule? Wie alt bist du denn? Was willst du denn mal werden?« ahmte sie mit schriller Stimme die lästigen Fragen nach.

      »So was habe ich doch noch gar nicht gefragt!«

      »Aber du guckst so, als ob du das fragen wolltest.«

      Die Abfuhr war deutlich. Agnes nahm ihre Zeitung und ging lächelnd hinaus. Ihr Lächeln war nicht echt. Ulla mußte ihre Unsicherheit spüren, ihre Herablassung, wenn sie mit ihr redete. Wie sehr mußte das kleine Mädchen die Fremden hassen, die sich in ihrem Haus breitmachten, in der Küche saßen, wenn man nach Hause kam, einem beim Schularbeitenmachen zusahen und auch noch dumme Fragen stellten.

      Agnes drehte an dem Heizungsknopf in ihrem Zimmer. Die Heizung blieb kalt, und aus dem Wasserhahn kam auch nur kaltes Wasser. Wenn sie warm werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als unter die Bettdecke zu kriechen. Sie legte ein Paket Käsegebäck, das noch von der Reise übriggeblieben war, neben sich in Griffnähe und schlug die Zeitung auf. Der Junge hatte recht gehabt, hier war nichts los, wenn man von einer Versteigerung und einem Scheunenbrand absah. In der großen Kurve vor dem Ortseingang war ein Auto in den Straßengraben gefahren, und ein Paar feierte seine Diamantene Hochzeit.

      Agnes schleuderte die Zeitung von sich. Wie langweilig alles war! In ihrer Enttäuschung wollte sie den Eltern schreiben. Die sollten ruhig wissen, was sie ihr da ausgesucht hatten! Sie legte sich den Briefblock auf die Knie und ließ den Kugelschreiber auf- und zuschnappen. Es war gar nicht so einfach, der Wut Ausdruck zu geben. Auf dem Papier sah alles anders aus. Konnte sie den Eltern das überhaupt antun? Schließlich hatten sie ihr die Reise geschenkt und das großzügige Taschengeld dazu. Aus dem Alter, in dem man Briefe schreibt wie: »Mir geht es gut, wie geht es Euch? Es grüßt Euch Eure ...«, war sie heraus. Wütend warf Agnes den Briefblock aus dem Bett.

      Nach einer Weile erwachte das Haus zum Leben. Türen wurden aufgeschlossen, fröhliche Stimmen mischten sich mit lauter Musik, und es dauerte gar nicht lang, da drang Essensgeruch zu ihr herauf, und sie merkte, wie hungrig sie war. Aber als es endlich an die Tür klopfte, überlegte sie trotzig, ob sie hinuntergehen sollte. Warum luden sie überhaupt Pensionsgäste ein, wenn sie ihnen zur Last wurden?

      Der Hunger trieb sie dann doch aus dem Bett und hinunter. Durch die angelehnte Küchentür sah sie als erstes Lena, die auf der Eckbank saß und gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte. Ulla fuhrwerkte mit ihrem Besteck auf dem leeren Teller herum. Frau Brodersen stand noch am Herd und wendete Koteletts in der Pfanne.

      Lena legte die Zeitschrift beiseite und entdeckte Agnes. »Warum stehst du draußen herum? Komm ’rein. Ich dachte schon, ich würde dich während deines ganzen Urlaubs nicht zu Gesicht kriegen!« Sie war ein ausgesprochen hübsches Mädchen, so, wie man sich immer wünscht auszusehen, wenn man dreizehn ist. Viel älter schien Lena noch nicht zu sein. Darüber täuschten auch ihre hüftlangen Haare nicht hinweg. Wenn sie ihr ins Gesicht fielen, verdeckten sie die runden Babywangen.

      »Ich heiße Marlene«, sagte sie, »aber alle nennen mich Lena.«

      »Das möchte sie bloß«, brummte Ulla.

      »Sei still, sonst sag’ ich Uschi zu dir! Denk an unsere Abmachung! Komm, Agnes, setz dich zu mir. Wie hast du den Tag verbracht?«

      Agnes schob sich in die Bank, und Ulla rückte nur widerwillig zur Seite. »Im Bett«, sagte sie anklagend, »mir blieb nichts anderes übrig. Da oben war es eiskalt.«

      Frau Brodersen legte ihnen die Koteletts vor. »Ach ja«, seufzte sie, »daran haben wir nicht gedacht. Wir hatten ja noch nie Pensionsgäste im Herbst. Bei uns wird immer erst abends die Heizung angestellt.«

      »Agnes ist nicht unser Pensionsgast«, protestierte Lena. »Sie soll sich wie zu Hause fühlen. Du hast es selbst gesagt!«

      »Natürlich, natürlich. Aber jetzt wollen wir essen!« Frau Brodersen redete sehr förmlich. Die Mütterlichkeit von gestern war ihr an einem langen Arbeitstag abhanden gekommen. Sie stöhnte, daß es ein schlimmer Tag gewesen sei, und ob man nicht wenigstens während des Essens das Radio abstellen könne. Es gab nur Salat in einer Fertigsauce, die künstlich schmeckte, dazu Weißbrot anstelle von Kartoffeln. Weil es schneller geht. Frau Brodersen entschuldigte sich, und Agnes mußte