Der Ötzi hatte in seinem Büro mehr Bücher gelagert, als alle Bauern der Umgebung zusammen je besessen hatten. Tanja würde wetten, dass er zur Uni gegangen war. Nach dem Zufallsprinzip zog sie einige Werke aus dem Regal. »Gott und Mammon – Biblische Perspektiven zum Umgang mit Geld«, »Eine Geschichte der Eifel in Wort und Bild«, »Alte Steinsetzungen in Simmerath«. Der Band »Windenergie im Binnenland: Handbuch der Wirtschaftlichkeit und Projektplanung an Binnenlandstandorten« war besonders schwergewichtig. Fünfhundert Seiten dick. Tanja erkannte kein System in der Lektüre. Offensichtlich hatte ihr Opfer sehr vielseitige Interessen gehabt. Dann fiel ihr auf, dass auf einer Seite des Regals fast alle Bücher einen grünen Rücken hatten. Sie beugte den Kopf und überflog die Titel. Bücher über Kräuter, Ratgeber zur Verwendung von Heilpflanzen und Bücher zur Bestimmung der heimischen Flora. Ihr Ötzi war ein Pflanzenfan gewesen.
Tanja dachte an ihr eigenes Bücherregal mit den Schmökern. Liebesromane, Krimis, solches Zeug. Leichte Lektüre für den Feierabend. Im Regal des Ötzi war kein einziger Roman zu finden. Sie stellte die Bände, die sie herausgezogen hatte, an ihren Platz zurück. Die Kriminaltechnik würde sich die Zeit nehmen müssen, sämtliche Titel durchzugehen, um eventuell darin versteckte Papiere oder Hinweise auf einen Mörder zu finden. Gut möglich, dass die Kollegen auf Bargeld stoßen würden. Womöglich hatte ihr Ötzi keiner Bank vertraut.
»Schau mal hier, das ist interessant«, sagte Claes plötzlich hinter ihr.
Sie drehte sich um und trat an den Schreibtisch.
Ihr Kollege hatte die Schubladen aufgezogen. In der obersten rechts war ein großer Kasten aus Holz. Claes hatte ihn aufgeklappt. Er enthielt Dutzende gelber, linierter Kärtchen.
Karteikarten, wie Tanja sie zum Englischlernen benutzte, um sich wichtige Vokabeln einzuprägen.
Eine Karte lag oben auf den anderen. »Ella Dorn/Antweiler«, stand darauf, zusammen mit einer Telefonnummer.
»Kommt dir die bekannt vor?« Claes’ Frage war rein rhetorisch. »Das war doch die letztes Jahr mit der Wünschelrute.«
Nie hätte Tanja diesen Namen vergessen. »Die Eifelhexe!«
Polizeibesuch
Ella lockerte den nächsten Dachziegel und ließ ihn nach unten in den Container fallen, den die Entsorgungsfirma ihr hingestellt hatte. Dann blickte sie auf. Von der Leiter aus hatte sie eine tolle Aussicht, fast noch besser als von ihrer Veranda. Wald, Wald und nochmals Wald, so weit sie blicken konnte. Nur an einigen Stellen waren braune Flecken zu sehen, wo der Sturm neulich die Bäume abgeknickt hatte. Die Forstarbeiter waren noch immer damit beschäftigt, den Windbruch zu beseitigen.
Sie atmete tief ein und wandte sich wieder dem Dach des Anbaus zu. Der Sturm mit dem freundlichen weiblichen Namen hatte einen Teil der Ziegel heruntergefegt. Ein Zeichen, dass es nun wirklich an der Zeit war, den Schuppen zu renovieren. Wenn sie die restlichen Ziegel selbst abdeckte, käme die Renovierung viel billiger, als wenn der Dachdecker das übernehmen würde. Der konnte anschließend neu eindecken, das war eine Aufgabe für Profis. Handwerker waren offensichtlich auf Monate im Voraus ausgebucht. Ella hatte betteln müssen, bis ihr einer versprochen hatte, sich in der übernächsten Woche ihr Dach anzusehen. Was bitter nötig war, wenn es vor dem Winter fertig sein sollte. Sie hatte noch zehn Tage, um mit ihrem Teil der Arbeit fertig zu werden.
Heute war sie spät in die Gänge gekommen. Morgens war es recht kalt gewesen, dann hatte sie umständlich Mittagessen gekocht und erst danach angefangen. Besser spät als nie, dachte sie jetzt und warf ihre störrischen Locken nach hinten.
Im nächsten Jahr würde sie hier Heu lagern. Für das Pferd, das dann hoffentlich bei ihr leben würde. Eine Weide brauchte sie auch noch, aber das dürfte kein großes Problem darstellen. Bestimmt würde einer aus dem Dorf daran interessiert sein, ihr eine Wiese zu verpachten.
Wenn sie zwei oder drei zusätzliche Gutachten für ihren ehemaligen Chef schreiben würde, wäre auch die Finanzierung kein Problem. Sie selbst brauchte in der Eifel kaum Geld. Außer Lebensmittel kaufte sie nur selten etwas ein. Beeren und Früchte aus Garten und Wald ergänzten ihren Speiseplan, die Nachbarn brachten manchmal etwas aus eigener Ernte vorbei. Dafür revanchierte sie sich bei ihnen mit einer Heilsalbe oder einem Kräutertee. Neulich hatte ihr Olga vom Forellengut drei dicke Wirsingköpfe aufgedrängt, die sie noch verarbeiten musste.
Shoppen war nicht ihr Ding, und eine große Auswahl gab es hier sowieso nicht. Wenn Ella mal nach Adenau fuhr, kam sie meist mit einem Kofferraum voller Einmachgläser oder ähnlich praktischer Dinge zurück. Ihr Haus thronte hoch oben über dem Ort Antweiler, der nur einen Kilometer entfernt war. Außer dem Bäcker gab es dort nur einen Landwirtschaftshandel.
Modische Kleidung brauchte sie ebenfalls nicht. Seit sie hergezogen war, hatte sie ein Paar Gummistiefel gekauft, das war alles.
Zack! Sie warf einen weiteren alten Dachziegel mit Schwung in den Container. Es gefiel ihr, nach Herzenslust Krach machen zu können.
Das Licht nahm langsam eine rötliche Tönung an. Die Tage wurden kürzer. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur Dämmerung.
Später würde sie am Gutachten über den Biotechmarkt weiterschreiben. Ihr früherer Chef wollte wissen, welche Nischen es gab, die Start-ups Chancen boten. Sein Consulting-Unternehmen beriet Geldgeber, die Risikokapital in junge Firmengründungen investieren wollten.
Nach ihrer Episode als Workaholic und dem anschließenden Zusammenbruch hatte Ella sich zwar geschworen, nur eine begrenzte Zahl an Gutachten pro Jahr zu verfassen, aber um das Geld für die Anschaffung eines Pferdes zu verdienen, konnte sie ihre eigenen Regeln auch mal etwas weiter auslegen, befand sie.
Schäferhund Rocco schlug an, dann hörte auch sie das Motorgeräusch. Sie drehte sich auf der Leiter um, schwankte und griff haltsuchend nach der Regenrinne.
Tatsächlich bog ein Auto in den Feldweg ein, der zu ihrem Haus führte. Besuch? Ella liebte die Einsamkeit. Sie hatte ganz bewusst ein Haus in Alleinlage gesucht und das ehemalige Forsthaus hier am Hang des Arembergs gefunden. Der Makler hatte eine saftige Provision kassiert, aber dafür fast alle ihre Wünsche erfüllt. So wenige Nachbarn wie möglich zum Beispiel. Ein Haus ganz ohne Besuch – das war allerdings ein unrealistischer Wunsch. Seufzend brach sie ihre Arbeit ab und stieg die Leiter hinunter.
Rocco war außer Rand und Band. Er bellte ohne Unterlass. Sie griff nach seinem Halsband.
Das Auto bog am Waldrand um die Ecke und kam auf ihr Hoftor zugeholpert. Ein Streifenwagen!
Sie zerrte Rocco ins Haus und sperrte ihn ins Wohnzimmer. Sie wusste nicht, wie der Hund auf Uniformen reagierte. Sie hatte ihn vor einem Jahr von einem ihrer wenigen Nachbarn übernommen, der jetzt in der JVA Rheinbach einsaß. Auch weil sie dazu beigetragen hatte, ihn eines Giftmords zu überführen.
Es klingelte an der Tür. Sie hatte immer noch keinen Spion eingebaut, aber sie wusste ja, dass Polizisten draußen standen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu öffnen. Die Beamten hatten sie bestimmt schon draußen gesehen.
Eine kleine, drahtige blonde Frau mit Pferdeschwanz und ein Mann mit Bauchansatz standen ihr gegenüber. Die Frau war vielleicht Anfang dreißig, der Mann wirkte etwas älter.
»Guten Tag, Frau Dorn, Sie erinnern sich vielleicht an uns.« Die Frau streckte ihr die Hand hin.
Und ob sie sich erinnerte. Ella drückte die Hand kurz und schwach. Dem Mann nickte sie nur zu.
Er nickte ebenfalls. Wie hieß er noch? Klas oder so.
»Kommissarin Marx, das ist Kollege Claes.« Die Polizeibeamtin hatte offensichtlich Ellas Irritation gespürt. »Unsere letzte Begegnung ist schon eine Weile her. Dürfen wir reinkommen?«
Ella drehte sich wortlos um und ging in die Küche voran. Rocco veranstaltete immer noch einen Höllenlärm. Er bellte und kratzte wie verrückt an der Wohnzimmertür. Offenbar hielt er es für seine Aufgabe, jeglichen Besuch zu kontrollieren. Das musste sie ihm dringend abgewöhnen. Aber wie? Es kam ja kaum Besuch. Was ihr eigentlich ganz lieb war.