Der Geruch des Todes. Cat Warren. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cat Warren
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783954641550
Скачать книгу
mache ich weiter. Ich bin süchtig. Ich werde besser darin, weder Universität noch Training zu vernachlässigen, und ich lerne, mit der unvermeidbaren Traurigkeit umzugehen. Was bleibt, ist die intensive körperliche und kognitive Herausforderung, eine Suche in ihre essentiellsten Elemente zu zerlegen, damit der Hund bestmöglich arbeiten kann. Wenn ich mit Solo durch den Wald spaziere, während Geruchsfäden in der morgendlichen Wärme aufsteigen, konzentriere ich mich so intensiv auf meine Umgebung, dass die Zeit stehen bleibt, sich krümmt und zu existieren aufhört. Oder ich genieße ein abendliches Training, während die Glühwürmchen um Solo tanzen, der einem komplexen Geruchsrätsel leichtfüßig durch die Dunkelheit folgt.

      Er ist ein Hund, der seine Geschichte zugleich lebt und erzählt, wenn seine braunen Augen glücklich und ungeduldig glitzern und er über eine Kuhweide springt, um mich dorthin zu führen, wo er in sechzig Meter Entfernung etwas vermutet.

      „Hey, hierher, komm! Schnell! Das tote Zeug ist hier! Komm, ich zeig’s dir!“

       1

       Der kleine Prinz der Dunkelheit

Image Image

      Ein Einzelkind zu sein ist für sich genommen schon eine Krankheit.

       - G. Stanley Hall, Von seltsamen und außergewöhnlichen Kindern, 1896 -

      Der Deutsche Schäferwelpe musste aus dem Schnitt im Bauch seiner Mutter gezogen werden. Ein schweres Bündel. Der einzige Welpe im Wurf.

      Er hatte einen prächtigen Kopf und war stark für ein Neugeborenes, schrieb Joan, die Züchterin aus Ohio, in ihrer E-Mail an mich. Seine Stärke war wenig verwunderlich − schließlich hatte er keinerlei Konkurrenz um die Nahrung seiner Mutter! Ich betrachtete die ersten Fotos nach dem Kaiserschnitt: Auf einem Bild kuschelte er sich fest in Joans schützende Hände, auf einem anderen hing er an einer der acht Zitzen seiner Mutter. Er konnte sich immer jenen Milchspender aussuchen, den er gerade wollte. Er sah zerdrückt aus und schien die Augen zusammengekniffen zu haben. Sein Kopf erinnerte an einen Maulwurf − alles andere als prächtig, doch Joan konnte das sicherlich besser einschätzen. Der Einzelwelpe war ihr fünfundzwanzigster Wurf Deutscher Schäferhunde und würde Vitas erster und letzter bleiben.

      Abgesehen von seinem guten Aussehen, dem kräftigen Körper und einer für ein neugeborenes Wesen beeindruckenden Gelassenheit gab es etwas Weiteres zu berichten. Er hatte eine ausgesprochen sensible Nase, schrieb Joan. „Wenige Stunden, nachdem wir heimgekommen waren, wachte er auf, als ich den Raum betrat, und ich sah seine Nase arbeiten.“ Ich las über dieses unwichtige Detail hinweg. Theoretisch konnte ich mir zwar etwas unter einer „arbeitenden Nase“ vorstellen, aber das interessierte mich nicht. Meinen beiden vorigen Deutschen Schäferhunden hatte ich beigebracht, ihre Nasen vom Schritt meiner Besucher fernzuhalten. „Nicht schnüffeln!“ war eines unserer Standardkommandos.

      Die wichtigste Neuigkeit, die Schlagzeile, war einige Absätze weiter unten in Joans E-Mail vergraben: „Warten wir ab, wie sich unser kleiner Prinz entwickelt, und dann kannst du entscheiden, ob du ihn haben willst.“ Sie versicherte mir, mir jederzeit mit Rat und Tat beizustehen, falls mich die Aussicht auf ein Einzelkind beunruhige, und dass sie und ihre erwachsenen Schäferhunde dem Welpen helfen würden, sämtliche Probleme zu überwinden.

      Beunruhigen? Probleme? David und ich hatten soeben den Hauptpreis im Welpen-Lotto gewonnen: einen schönen, gesunden Rüden! Wir hatten einen Welpen! In der Woche davor war ich um meinen E-Mail-Posteingang geschlichen und hatte auf den Geburtsbericht gewartet. Fast ein Jahr war vergangen, seit unser geliebter Deutscher Schäferhund Zev gestorben war. Das nächste Kapitel unseres Lebens mit Schäferhunden war endlich angebrochen. Ich machte mich auf die Suche nach David, der im Büro an seinen Logik-Kursen arbeitete. Ich hüpfte durchs Wohnzimmer und lief zum Computer zurück, um David die E-Mail laut vorzulesen. Er wartete geduldig ab, während ich die Worte aussprach und Realität werden ließ. Ich wartete, bis meine Euphorie abgeklungen war, bevor ich Joan zurückschrieb. Ich wollte reif und ausgeglichen klingen. All das Planen, die Arbeit und die Kosten für einen einzigen Welpen statt für eine ganze Wurfkiste voller zappelnder Beine und Ruten. Die anderen auf der Warteliste würden enttäuscht sein. All das war mir bewusst, doch tat es meiner überschwänglichen Freude keinen Abbruch.

      Zehn Monate zuvor hatte ich mich in die Linien der Schäferzüchterin aus Ohio und in die Vorstellung, einen solchen Welpen zu haben, verliebt. Joan Andreasen-Webb züchtete und hielt Schäferhunde aus westdeutschen Linien. Sie zog ihre Welpen mit Ziegenmilch und Rohfleisch auf und sozialisierte sie gut. Ihre erwachsenen Hunde lagen am Gehsteig unter Kaffeehaustischen, kamen zur Kinder-Lesestunde in der Bibliothek, hüteten Schafe und brillierten in einer Sportart namens Schutzhund, von der ich nichts weiter wusste, als dass sie Beißen auf Kommando involvierte. Einige ihrer Welpen wurden sogar zu Polizeihunden ausgebildet. Jahre zuvor hatte ich als Reporterin einen Polizeihund begleitet; die Intensität und das tiefe Bellen des Hundes beeindruckten und erschreckten mich zu gleichen Maßen. Das war es nicht, was ich von einem Deutschen Schäferhund wollte. Mein Welpe hatte genau zwei Aufgaben: ruhig unter dem Schreibtisch zu liegen, während ich arbeitete, und dann aufzuspringen, um am Obedience-Turnierplatz alle anderen in den Schatten zu stellen − ein Hobby, das ich aufgegeben hatte, als Zev zu krank wurde, um Turniere zu laufen.

      Schließlich ließ ich das Tagträumen sein und suchte Informationen zu Einzelwelpen im Internet. Für uns Menschen stellt das den Normalfall dar: Die meisten von uns kommen als einzelnes neugeborenes Kind auf die Welt. Für Hunde bedeutet „Einzelkind“ genau dasselbe − nur dass im selben Atemzug zahlreiche Horrorgeschichten erwähnt werden. So läuft das im Internet allerdings meistens. Du suchst nach Erklärungen, und die Symptome lesen sich, als handle es sich um die Pest.

      Für gewöhnlich senden und erhalten die Welpen in einem Wurf täglich Tausende von Signalen, während sie übereinander purzeln, einander abschlecken und beißen, vor Schmerz quietschen, entschuldigend pinkeln und sich über die Lefzen schlecken, um beim nächsten Mal sanfter zuzubeißen. Das Gedränge unter den Geschwistern bereitet sie auf die rauen Sitten der Hundezone vor, auf den bissigen Chihuahua der Nachbarn und auf überraschende Begegnungen mit seltsamen Menschen und Kindern. Ein Einzelwelpe dagegen lebt in einer Welt, in der es kaum Grenzen gibt. Häufig entwickelt er „Berührungsängste“ anstatt einer „Beißhemmung“. Er ist „unfähig, soziale Situationen ruhig und elegant zu lösen“. (Obwohl ich kein Einzelkind war, konnte ich den letzten Punkt nachvollziehen.) Er ist „unfähig, mit Frustration umzugehen“. (Diesen auch.) Joan hatte angedeutet, dass ein Einzelwelpe auch potentielle Vorteile hätte, und ich war erleichtert, in den folgenden Absätzen darüber zu lesen. Einzelwelpen können zu außergewöhnlich treuen Gefährten werden, da sie besonders enge Beziehungen zu Menschen eingehen − manchmal zumindest.

      David und ich vermieden es an diesem Abend, das „Was wäre, wenn ...“ anzusprechen. Wir hatten dem Welpen bereits einen Namen gegeben, bevor Vita läufig wurde: Coda, wörtlich „Schwanz“ auf Italienisch, die musikalische Bewegung am Ende einer Komposition − ein Rückblick, ein nachdenkliches Reflektieren, ein Schlussplädoyer. Dieser Welpe würde unser akademisches und soziales Leben nicht unterbrechen, sondern ergänzen. Ich hatte vor kurzem eine volle Professur an einer guten Universität erhalten und stand am Beginn einer vielversprechenden akademischen Karriere. Ich lieferte Forschungsergebnisse und erfüllte meine Bestimmung der durchsetzungsfähigen und hippen Jungprofessorin, die in coolen schwarzen Outfits auftrat und ihren Prinzipien treu blieb. Nichts und niemand konnte mich aufhalten. Vielleicht war ich kein akademischer Superstar, aber ich war verdammt gut in meinem Job. Ein Welpe war ein einfaches Geschenk, meine Belohnung für all die Arbeit und eine willkommene Ablenkung vom Universitätsalltag.

      David und ich waren realistisch − zumindest redeten wir uns das ein. Wir erwarteten, dass ein Welpe aus westdeutschen Arbeitslinien