Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln. Hannes Lindemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hannes Lindemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783667104083
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href="#fb3_img_img_a516ca1a-e343-5153-a7be-c2f08abecc0c.jpg" alt="Image"/> Las Palmas de Gran Canaria, im Oktober 1964

      Ich sitze im Cockpit und schreibe, Elga ist an Land gerudert, um Einkäufe zu machen. Weiß strahlen die modernen Hochhäuser dieser Stadt am Ufer. Die Sonne glüht und der Himmel ist blau. Daran hat sich seit Madeira nichts geändert – sonst viel.

      Die Gruppe der Kanarischen Inseln besteht aus sieben Inseln. Geographisch gehören sie zu Afrika, politisch zu Spanien. Wie Madeira sind sie vulkanischen Ursprungs. Ihre Kegelberge zeugen davon viel deutlicher als die aufgetürmten Lavahänge Madeiras, die in Regenschauern achteraus verschwanden, nachdem Elga »Kairos« unter Maschine aus dem Hafen von Funchal gesteuert hatte.

      Das geschah vor einer Woche – und scheint doch eine Unendlichkeit zurückzuliegen. Das Erlebnis der See verschiebt die Grenzen der Zeit.

      Der Abschied fiel uns schwer. Die Familie G. hatte uns mit liebevoller Gastfreundschaft bedacht. Lotsen und Bootsleute, Bauern und Geschäftsleute scheuten nie vor jenen Hilfeleistungen zurück, die unseren Aufenthalt so schön machten: wir fühlten uns zu keiner Stunde als Fremde. Der Zahnarzt, der die Trümmer meines ramponierten Obergebisses gegen strahlenden Kunststoff auswechselte, nahm mir in seinem komischen Englisch, über das wir beide stets lachen mußten, das Versprechen ab, nie »seine« neuen Zähne für Segelmanöver zu benutzen. Seine Rechnung – ich hoffe, sie hat wenigstens die Unkosten gedeckt. Als wir aus der Windabdeckung Madeiras liefen, setzten wir die Segel und stellten die Maschine ab. Dünung zog, Wind wehte, Wolken segelten. Der Kurs war Südsüdost, der Wind Nordost Stärke 5. Unendlich langsam sank das Licht des Tages. Rot im Westen stand schließlich ein letzter Abendschimmer über schwarzem Horizont. Die Nacht kam auf. Sterne zogen.

      Am Morgen des nächsten Tages nach dem Frühstück – Kaffee, Toast, Butter, Marmelade – prüfte ich das Chronometer anhand des Zeitzeichens der Radiostation WWV, Washington. Den Chronometerstand trug ich ins Logbuch ein. Nachdem ich Elga eine unserer Stoppuhren hinausgereicht hatte, stieg ich an Deck. Mit der linken Hand hielt ich mich fest, mit der rechten balancierte ich den Sextanten, um ihn vor Schaden zu bewahren.

      Elga sah dieser akrobatischen Vorführung von der Ruderpinne her sorgenvoll zu.

      »Es ist ein Jammer«, sagte ich, »daß wir keinen Flugzeugträger fahren.«

      Elgas Gesicht heiterte sich auf.

      Die torkelnde Winzigkeit unseres Schiffes verwandelte sich in meinem Geiste zu einem sanft auf- und abschwingenden Deck. »Und dann dieser Platz! Und die Höhe! Stell dir das vor! Die können ja der Sonne auf die Schulter klopfen und nach ihrem Höhenwinkel fragen

      »Nein«, sagte Elga. »Das wäre ja Flugnavigation. Bleib der Seefahrt treu, Junge!«

      Meine Begeisterung brach ab. Ich suchte nach einem Platz, der möglichst hoch, möglichst trocken, möglichst ruhig einen von den Segeln ungehinderten Blick zur Sonne zuließ. Ich fand keinen. Schließlich setzte ich mich auf das Heck. Dort saß ich tief, fast trocken und überhaupt nicht ruhig.

      Ich fixierte die Sonne durch den Sextanten und brachte ihr Spiegelbild auf die Kimm, die immer wieder vom Seegang verdeckt wurde. Nichts stand fest außer der Sonne im Himmel. Ihr Spiegelbild tanzte, das Schiff schlingerte, die Kimm war nur für Sekunden sichtbar. Ich folgte allen Bewegungen, Bruchteile von Sekunden zu spät.

      »Achtung!« sagte ich. Das Schiff hob sich, die Kimm wurde sichtbar. Ich korrigierte die Sextanteinstellung – zu spät. Ein Brecher zog vorbei.

      Endlich klappte es. »Null!« rief ich. Elga betätigte die Stoppuhr. Ich arbeitete mich in die Kajüte zum Kartentisch zurück, wo ich zunächst den Sextanten vorsichtig in seinen Kasten stellte. Dann las ich das Chronometer ab. »Achtung – stopp!«

      »1 Minute und 3 Sekunden«, meldete Elga.

      Unter Berücksichtigung dieser zwischen Sonnenmessung und Chronometerablesung abgelaufenen Zeit machte ich die Eintragung meiner Beobachtung ins Logbuch. Für einen Augenblick träumte ich wieder von dem hohen, sanft schwingenden Deck meines Flugzeugträgers, wo mehrere Navigatoren nun ihre abgelesenen Werte vergleichen konnten – meine Messung stand ungeprüft im Logbuch. Ich stieg an Deck und übernahm die Pinne.

      Elga wertete die Beobachtung aus, eine logarithmische Rechenarbeit von etwa 20 Minuten Dauer.

      Durch die geöffnete Niedergangsluke konnte ich sie dabei heimlich beobachten, während ich laut, falsch und scheinheilig »La Paloma« pfiff. Sie saß gut verkeilt am Tisch, umgeben von den ebenfalls verkeilten Tafeln und Büchern. Nur unser großes, grünes Radiergummi konnte frei liegen und rutschte nicht. Ihr Gesicht war ernst und konzentriert, während sie kleine Zahlen eilig und sauber in das Beobachtungsbuch schrieb.

      »So«, sagte sie schließlich, packte die Bücher ins Fach und kam zum Niedergang, an dessen Stufen sie sich festhielt. »Ich bin müde. Gute Wache!«

      »Schlaf gut!«

      »Brauchst du noch etwas?«

      »Danke, nein.«

      Mittags weckte ich Elga, die das Ruder übernahm. Ich holte den Sextanten, suchte einen Platz, der sich jetzt auf dem Bug niedrig, feucht und sehr bewegt anbot. Von dort beobachtete ich die Kulmination der Sonne, ihren höchsten Stand im Mittag.

      Diese Mittagshöhe wertete Elga zusammen mit dem Ergebnis des Vormittags zum Mittagsbesteck aus. Sie kam anschließend mit der Seekarte an Deck.

      »Hier sind wir«, sagte sie und zeigte auf das Bleistiftkreuz. »Wir haben eine Versetzung von 12 Seemeilen nach Südsüdwest. Etmal 121 Seemeilen.«

      Ich sah mir die Karte an. »Setz den Kurs gut westlich von den Selvagem Inseln ab. Zu Mitternacht sind wir frei von ihnen. Dann gehen wir auf den direkten Kurs zur Nordspitze von Gran Canaria.«

      Elga kletterte zum Kartentisch und sagte nach einigen Minuten: »186° am Kompaß – ab Mitternacht dann 166°. Verstanden?«

      Ich wiederholte die Kurszahlen und rief dann: »Hunger!«

      »Es gibt heute Haferflocken mit Pfirsichkompott«, verkündete Elga gelassen, wobei sie sich festhalten mußte, weil »Kairos« überholte.

      Ich schildere das alles so genau, damit man sich unseren Alltag auf See vorstellen kann. Es ist ein Alltag in ständiger Bewegung, ein Alltag, eingegrenzt von der Reling unseres Schiffes, erfüllt von unserer Bordroutine, die Wache um Wache und Arbeit um Arbeit vorschreibt. Unaufhörlich zieht »Kairos« seinen Weg: schäumend teilt sein Bug die See, gurgelnd fließt das überkommende Wasser durch seine Speigatten ab, willig wölben sich seine Segel in den Wind – vorwärts, vorwärts: ziehender Punkt im Ozean.

      Am nächsten Tag lösten sich die Konturen der Insel Gran Canaria aus Dunst und Wolken.

      Es würde nichts ausmachen, wenn das Ziel noch nicht so nah vor dem Steven liegen würde. Denn so lange Wind weht und Wasser unter seinem Kiel wogt, wird ein Schiff segeln – vorwärts, weiter und weiter. Schiffe brauchen kein Ziel, wie wir Menschen, die sie bedienen. Schiffe sind um des Segelns willen da. Sie tun es ohne Ermüdung, wenn man sie richtig behandelt. Es liegt etwas unsagbar Überzeugendes in ihrer Stärke. Gewiß sind sie wie Auto, Eisenbahn oder Flugzeug Konstruktionen, die der Fortbewegung dienen. Aber ebenso gewiß sind sie mehr als diese. Ihr segelndes Bestehen ist nur gesichert, wenn es in völliger Harmonie mit den Menschen, die sie führen, und mit der Natur geschieht, die sie umgibt. Diese Wechselwirkung scheint Segelschiffen eine Seele einzugeben, scheint sie zu Lebewesen werden zu lassen, die man liebt. In jeder Liebe sucht und findet der Mensch sein Spiegelbild ebenso wie seine Selbstlosigkeit. Und kein Ding auf dieser Erde schenkt dem Menschen sein Spiegelbild so klar und fordert so unbedingt Selbstlosigkeit wie ein Segelschiff.

      Eigentlich spreche ich gar nicht von »Schiffen«, sondern von »Kairos«. Wir leben seit unserer Ausreise nun 140 Tage und Nächte auf diesem Schiff, Tage und Nächte, deren größter Teil seiner Wartung und Bedienung galt. Er hat uns sicher und zuverlässig getragen. Nie hatten wir auf ihm, dem winzigen Punkt im Ozean, das