Leben in der Spur des Todes. Pamela Katharina Körner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pamela Katharina Körner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783954572236
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ich immer noch im Schockzustand. Drei weiße Urnen mit den Namen meiner Lieben. Sie waren gefüllt mit den Überresten der Körper vom Rastplatz. Neben der Urne meines Sohnes stand seine Taufkerze. Sie brannte zum ersten Mal am Tag seiner Beerdigung. Wir waren eine Stunde vor Beginn der Trauerfeier da. Gestützt von meiner Freundin setzte ich mich in die erste Reihe. Meine andere Freundin stützte meinen Vater, ich konnte ihm in diesem Moment keinen Halt geben, drohte ich doch selbst jeden Augenblick zusammenzubrechen. Ich musste immer wieder die Urnen anfassen. Mir fehlte das „Abschiednehmen“, das Anfassen, das Begreifen.

      Anna und Lina hatte ich bei meinem Babysitter gelassen, der in der Vergangenheit schon oft auf die beiden aufgepasst hatte. Als wir, mein Vater, Kais Familie und ich das Haus verließen, weinten beide Kinder. Schrecklich – es war, als hätten sie gewusst, dass wir uns auf den Weg machen, ihren Vater, ihren Bruder und ihren Onkel zu Grabe zu tragen.

      Ich bedankte mich innerlich bei meinem Lebensgefährten für die gemeinsame Zeit mit ihm, für seine mir entgegengebrachte Liebe, für Anna und Lina, die mich fürs Erste am Leben hielten.

      Vor Karls Urne fehlten mir die Worte. Sein Tod hat mir sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Fassungslosigkeit beim Lesen seines Namens auf der Urne. Unser Wunschkind, mein Erstgeborener in einer Urne? Nein, nein, nein! Ich wollte ihn zurück haben. Ich wollte nicht ohne ihn leben.

      Meinen Bruder Stephan und mich verband eine große Geschwisterliebe. So sehr wir uns auch in den Kindertagen stritten, desto enger wurde unsere Verbindung als Erwachsene. Egal, in welcher Situation ich mich befand: Immer half mein Bruder mir.

      Nach der Beisetzung fuhren wir nach Hause, an Essen oder ein Beisammensein war nicht zu denken. Anna und Lina liefen mir strahlend in die Arme – dem Tod und dem Leben so nah.

      Meine neues Zuhause wurde der Friedhof, während das Leben um mich herum einfach so weiterging. Die Vögel zwitscherten ein Lied, die Sonne ging auf und versprach einen schönen Sommertag, Geschäfte öffneten – so wie immer, als wäre nichts passiert. Ich befand mich mitten in diesen für alle anderen so alltäglichen Normalitäten – aber ohnmächtig vor Schmerz, hilflos, orientierungslos, heimatlos.

      In der darauf folgenden Zeit ging ich jeden Morgen auf den Friedhof, legte mich dort vor das Grab, weil ich keine Kraft mehr hatte zu stehen. Die Kieselsteine drückten sich in meine Haut, aber das war nichts gegen meinen Seelen- und meinen Herzschmerz. Andere Besucher hörten meine Verzweiflung, wollten mich trösten.

      Doch wer hätte mich trösten können?

      Klopfe an die Pforte des Himmels und achte auf das Geräusch.

       Zen

      3

      Wenige Tage nach dem Unfall begann ich zu beten – so unverständlich es auch für manchen klingen mag: Es war mir ein Bedürfnis, mit Gott zu reden:

      Ich klagte ihn an.

      Ich rief ihn an, das Geschehene rückgängig zu machen.

      Ich flehte ihn an, mir den Schmerz aus dem Körper zu nehmen.

      Ich bat ihn um Hilfe.

      Ich beschwor ihn, mir die Kraft zu geben, mit dem, was ist, fertig zu werden.

      Ich betete und flehte morgens, wenn ich meine Mädchen in den Kindergarten gebracht hatte und sie meinen Schmerz und meine Verzweiflung nicht sehen konnten, und immer nachts, wenn die Ablenkung vom Tag fehlte.

      Man kann in der Nacht niemanden anrufen. Ich konnte es zumindest nicht, und ich wollte es auch nicht. Das Alleinsein, sich und den Schmerz aushalten zu müssen, war schlimm, aber auch heilsam, wie ich heute weiß.

      Ich war noch nie ein Freund von Tabletten und Alkohol gewesen. Statt mich mit Drogen irgendwelcher Art oder mit sinnloser Ablenkung zu betäuben, betete ich – und spürte, dass mich etwas trägt. Ich konnte sogar immer einschlafen nach dem Gebet, nach dem Gespräch mit Gott. Und irgendwann verspürte ich auf einmal einen großen Frieden in mir. Ich kam für einige Zeit zur Ruhe. Dabei half mir bei allem sicherlich sehr mein spirituelles Wissen, das ich mir über viele Jahre hinweg angeeignet hatte.

      Drei Tage nach der Beerdigung wurden meine Zwillingsmädchen zwei Jahre alt. Lina und Anna zuliebe „feierten“ wir gemeinsam mit meinen Freundinnen diesen Tag, so gut es ging. Ich hatte mir lange überlegt, ob ich diesen Tag feiern oder lieber „einfach übergehen“ sollte. Natürlich war keinem von uns nach Singen, Tanzen, Glücklichsein zumute. Ich entschied mich aber dann doch für eine kleine Feier. Sollte ich aufhören, die Geburt der beiden Mädchen zu feiern, weil der Tod an unsere Tür geklopft hatte – und eingetreten war? Der Tag von Anna und Linas Geburt war ein Freudentag, ich wollte ihn auch in diesem Jahr feiern. Denn für mich hatte das „Fest“ auch etwas mit der Wertschätzung meinen Kindern gegenüber zu tun.

      Wir lächelten uns an, wenn wir die glücklichen Gesichter der Mädchen beim Auspacken der Geschenke sahen. Wir weinten, wenn wir glaubten, dass es niemand sehen würde. Die beiden Kindergesichter hielten mich am Leben.

      Die Familie meines Lebensgefährten aber war darüber entsetzt.

      Am Abend, als alle weg waren und die Mädchen schliefen, brach ich wieder zusammen. An Schlaf war nicht zu denken. In jeder Zelle meines Körpers spürte ich Schmerz. Wie immer setzte ich mich auch in dieser Nacht ins Wohnzimmer, stellte Fotos von meiner Familie auf, eine Kerze dazu, und weinte bitterlich. Ich konnte nicht glauben, was mir das Schicksal hier auferlegt hatte. Es heißt doch immer, dass wir Menschen immer nur so viel auferlegt bekommen, wie wir tragen können.

      Und ich führte mein Gespräch mit Gott.

      Wieder brach es aus mir heraus, ich haderte mit dem Allmächtigen, ich beschimpfte ihn, ich erklärte ihm, dass dies zu viel sei, dass ich dies nicht tragen könne.

      Ich betete und wurde dabei immer ruhiger, meine Tränen wurden weniger und ich fühlte mich von einer unsichtbaren Kraft getragen. Diese Kraft würde mir helfen, weiter zu gehen, auch wenn mir die Zukunft schreckliche Angst machte – ich wollte mich dieser Zukunft und diesem Leben nicht wirklich stellen.

      Aber nun versuchte ich, so gut es ging, ein „normales Leben“ zu leben. Doch hatte ich gleichzeitig das Gefühl, dass das Leben mich mit all’ seiner Kraft zerdrückte. Es forderte, es überforderte mich mit allem, was zum Alltäglichen gehört. Ich saß nächtelang vor Ordnern mit Unterlagen, hatte ich mich bisher doch noch nie um diese „Lebensbereiche“ kümmern müssen, und es kostete mich viel Kraft und Zeit, bis ich mir einen Überblick über die Dokumente in den Ordner verschafft hatte. Zum Glück war Kai ein sehr ordentlicher Mensch, der alles übersichtlich abgeheftet hatte.

      Am schlimmsten aber fiel mir das Abfassen der Kündigungsschreiben an Versicherungen und Krankenkassen, immer wieder musste ich den gleichen Satz zu Papier bringen: „Hiermit teile ich ihnen mit, dass mein Sohn – mein Lebensgefährte – mein Bruder am 13. August 2005 tödlich verunglückt ist.“ Und jedes Mal musste ich darauf achten, dass das Blatt nicht nass wurde von meinen Tränen. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages solche Briefe würde verfassen müssen.

      Tagsüber ging ich „tapfer“ in die Stadt, um mich abzulenken, was mir natürlich nicht gelang. Meist musste ich diese fluchtartig wieder verlassen, denn beim Anblick der Eisdiele oder dem Spielplatz musste ich sofort an meinen Sohn Karl denken – und vor allem daran, dass er dort nie mehr spielen oder ein Eis essen würde.

      Die Sonnenbrille wurde mein wichtigster Begleiter. Sie schützte mich vor neugierigen Blicken und versteckte meine Tränen, wenn ich sie trotz aller Anstrengungen nicht mehr zurückhalten konnte. Wenn ich mich in ein Café setzte, bemerkte ich, dass Menschen sich gegenseitig anstießen und anfingen zu tuscheln. Sie redeten, schauten dann wieder zu mir herüber, sahen weg, wenn ich den Blickkontakt suchte.

      Ich war die mit dem Unfall. Andere wiederum gingen mir aus dem Weg, wofür ich damals Verständnis hatte – was sollten sie auch sagen? Manch einer wagte sogar den Kontakt mit mir und wollte mich trösten, indem er mir vom Tod der Mutter oder Oma erzählte, die mit 80 Jahren (!) vor Kurzem verstorben war. Das wollte ich nun wirklich