Tom wollte ihr Lächeln erwidern, aber es gelang ihm nicht. Zu lächeln fühlte sich so schwer an, dass er keine Kraft dafür aufbringen konnte.
„Er fehlt mir“, sagte Tom.
Elenna nickte.
„Sie hat Mutter und Vater verloren“, dachte Tom. „Sie weiß, wie es sich anfühlt.“
Freya trat vor. In beiden Händen hielt sie ein Schwert samt Scheide. „Wir alle vermissen Taladon“, sagte sie. „Aber wir müssen stark sein. Hier – ein Krieger nimmt sein Schwert mit in den Tod.“
Tom verstand. Er nahm das Schwert, ging langsam zu dem Wagen und legte es auf den Sarg.
„Bring ihn behutsam in die Halle der Toten“, sagte König Hugo zum Kutschfahrer. Die Stimme des Königs klang rau. Taladon und Hugo waren schon lange vor Toms Geburt Freunde gewesen.
Langsam rollte der Wagen los. Mit wippenden Köpfen zogen die Pferde ihn durch den aufgeweichten Boden. Tom sah ihm nach, wie er sich allmählich dem Stadttor näherte. Von dort würde es weiter zur Halle der Toten gehen, wo seit dem ersten Herrn der Biester, Tanner, alle Herren der Biester ihre letzte Ruhe fanden.
„Eines Tages werde auch ich dort meinen Platz einnehmen“, dachte Tom.
Eine Hand schob sich in seine und drückte sanft zu. Freya sah ihn eindringlich an.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie. „Gwildor braucht mich.“
Tom nickte. Er hatte immer gewusst, dass seine Mutter irgendwann zu ihren Pflichten als Herrin der Biester von Gwildor zurückkehren würde. Sie umarmten sich. Über Freyas Schulter sah Tom, dass Aduro bereits ein Portal heraufbeschworen hatte, das seine Mutter nach Hause bringen würde. Es schimmerte wie eine Luftspiegelung.
Freya löste sich von ihm. „Du bist jetzt der Herr der Biester“, sagte sie. „Und ich weiß, dass du mich stolz machen wirst.“
Mit zwei Schritten war sie am Portal. Mit dem dritten Schritt war sie verschwunden. Die flirrende Luft beruhigte sich wieder.
Jahrelang hatte Tom geglaubt, dass seine Eltern tot seien. Dann, nach vielen Missionen, hatte er sie wiedergefunden. Beide waren tapfere Krieger, die geschworen hatten, ihre Königreiche zu beschützen. Nun hatte er seinen Vater für immer verloren. Und seine Mutter riskierte ihr Leben weit weg von ihm.
Tom hatte sich noch nie so allein gefühlt. König Hugo kam zu ihm. Der Regen strömte ihm über das Gesicht und rann durch seinen Bart.
„Dein Vater war der tapferste Mann, den ich je kannte“, sagte er. „Avantia schuldet ihm mehr, als in Gold oder Edelsteinen auszudrücken ist.“
Die Worte des Königs weckten Toms Stolz. Sogleich richtete er sich in der schweren Rüstung gerader auf.
„Ich habe vor, seine Pflichten ehrenhaft und mutig fortzusetzen“, sagte er. „Ich bin bereit, eine neue Mission zu übernehmen.“
Aduro lächelte leicht.
„Natürlich würdest du dich gerne mit einer Aufgabe ablenken“, sagte er. „Aber es gibt keine neue Mission. Malvel ist tot, von ihm droht dem Königreich keine Gefahr mehr. Warum genießt du nicht deinen wohlverdienten –“
Ein lautes Splittern von Holz unterbrach den Zauberer und Tom spürte einen Schmerz seinen Arm hinaufzucken.
„Tom!“, keuchte Elenna. „Dein Schild!“
Schnell drehte Tom den Schild mit der Vorderseite zu sich und betrachtete mit großen Augen die Oberfläche. Die Kralle von Eposs glühte dunkelrot und versuchte sich knirschend aus dem durchnässten Holz zu befreien.
„Der Flammenvogel muss in Gefahr sein!“, sagte Tom.
Aduro legte zwei Finger auf die Kralle und murmelte lautlos einen Zauberspruch. Rotes Licht schoss aus dem Schild und bildete einen Kreis so groß wie Tom. In der Mitte des Kreises entstand ein Bild. Tom, Elenna und die anderen starrten es an.
„Stonewin!“, sagte Elenna.
Tom sah die schwarzen, mit Lava bedeckten Steilhänge des Vulkans. Plötzlich brach eine dunkle Gestalt durch die Wolken. Tom erkannte die rotbraunen Federn und den goldenen Schnabel von Eposs. Doch auf dem Rücken des Flammenvogels saß eine Frau mit leuchtend rotem Haar. Sie trug einen flatternden schwarzen Lederumhang, der mit Eisennadeln zusammengeflickt war. An ihren Handgelenken klimperten Dutzende Metallarmbänder und an ihren Fingern glitzerten Ringe mit Edelsteinen.
„Wer ist das?“, fragte Tom.
Aduro war blass geworden. Mit zitternden Händen trat er auf den Bildkreis zu. „Das kann nicht sein …“, murmelte er.
Die Frau hielt einen Eisenstab in der einen Hand und in der anderen einen Dolch mit gebogener Klinge. Sie hob ihn hoch über den Kopf und rammte ihn dann in Eposs’ Rücken. Der Flammenvogel kreischte so laut, dass Toms Knie weich wurden und er die Augen schließen musste.
„Nein!“, schrie er.
Als er die Augen wieder öffnete, trudelte das gute Biest durch die Luft. Die schreckliche Frau hatte den Dolch wieder aus seinem Rücken gezogen. Jetzt hielt sie ein kleines Glasröhrchen vollkommen ruhig in der Hand und fing damit einige Blutstropfen auf. Dann steckte sie es zurück in ihren Umhang. Böse grinsend ließ sie sich zur Seite gleiten, stieß sich mit einem Salto vom Rücken des Vogels ab und landete auf dem Vulkan.
Eposs segelte wild kreischend davon, aber offensichtlich war er nicht schwer verletzt. Die Frau steckte ihren Dolch in eine Hülle an ihrem Gürtel, dann hob sie den Eisenstab zum Himmel hoch. Ihre grünen Augen funkelten vor Heimtücke.
„Was macht sie da?“, flüsterte Elenna.
Blitze zuckten über dem Vulkan auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Tom, wie ein Blitz in den Stab einschlug. Grell brannte sich der Anblick des glühend weiß leuchtenden Stabs in seine Augen. Als das blendende Licht wieder abnahm, war die Frau verschwunden. Nur ein paar Rauchfahnen waren zurückgeblieben.
Der rote Bildkreis wurde kleiner und verschwand schließlich. Was blieb, war der strömende Regen.
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