Wir gingen die North Strand Road entlang, bis wir an die Vitriolwerke kamen, und wandten uns dann nach rechts, die Wharf Road entlang. Sobald uns niemand mehr sehen konnte, fing Mahony an, Indianer zu spielen. Er jagte hinter einer Schar zerlumpter Mädchen her, schwang seine ungeladene Schleuder, und als zwei zerlumpte Jungens aus Ritterlichkeit anfingen, uns mit Seinen zu werfen, schlug er einen Angriff auf sie vor. Ich entgegnete, die Jungen wären zu klein, und so gingen wir denn weiter, während die zerlumpte Schar hinter uns herrief: Evangelische Ratten, denn sie hielten uns für Protestanten, weil Mahony, der eine dunkle Gesichtsfarbe hatte, an seiner Mütze das silberne Abzeichen eines Kricketklubs trug. Als wir an das Smoothing Iron kamen, spielten wir Belagerung; aber es war ein Fehlschlag, weil dazu doch mindestens drei nötig sind. Wir rächten uns an Leo Dillon, schimpften ihn einen ganz gemeinen Schisser und rieten, wieviel er um drei Uhr von Herrn Ryan übergezogen bekommen würde.
Dann kamen wir an den Fluß. Lange gingen wir über die lärmenden Straßen, die hohe Steinmauern einfaßten, beobachteten das Arbeiten der Kräne und Maschinen und wurden oft von den Kutschern ächzender Wagen angeschrien, weil wir so unbeweglich im Wege standen.
Es war Mittag, als wir die Kais erreichten, und da alle Arbeiter zu frühstücken schienen, kauften wir zwei große Korinthenbrötchen und setzten uns, um sie zu essen, auf ein Metallrohr neben dem Fluß. Wir erfreuten uns am Anblick des Dubliner Handels: von weither kündigten sich die Schiffe durch ihren krausen, wolligen Rauch an, die braune Fischerflotte fuhr jenseits Ringsend, und am gegenüberliegenden Kai wurde das große, weiße Segelschiff ausgeladen. Mahony meinte, es wäre ein herrlicher Spaß, auf einem der großen Schiffe durchzubrennen, und als ich die hohen Masten betrachtete, sah oder glaubte sogar ich zu sehen, wie die Geographie, die ich in so kleinen Dosen in der Schule verabreicht bekommen hatte, in meinen Augen Substanz annahm. Schule und Haus schienen zurückzuweichen und beider Einfluß auf uns zu schwinden.
Mit der Fähre fuhren wir über den Liffey, zahlten unser Fahrgeld und wurden zusammen mit zwei Arbeitern und einem kleinen Juden, der einen Sack trug, hinübergefahren. Wir waren ernst bis zur Feierlichkeit, aber einmal begegneten sich während der kurzen Überfahrt unsere Augen, und wir lachten. Als wir landeten, beobachteten wir das Ausladen des schmucken Dreimasters, den wir vom andern Kai aus schon gesehen hatten. Einer der Zuschauer sagte, es sei ein norwegisches Schiff. Ich ging an das Hinterteil und wollte seinen Namen entziffern; da mir das aber nicht gelang, kam ich zurück und betrachtete genau die ausländischen Matrosen, denn ich wollte feststellen, ob welche von ihnen grüne Augen hätten, mir schwebte nämlich vor . . . Die Augen der Matrosen waren blau, grau und sogar schwarz. Der einzige Matrose, dessen Augen man hätte grün nennen können, war ein großer Mann, der die Menge auf dem Kai dadurch erfreute, daß er jedesmal, wenn die Planken fielen, lustig rief: All right! All right!
Als wir dieses Schauspiels müde waren, schlenderten wir nach Ringsend hinein. Es war schwül geworden, und in den Fenstern der Krämerläden schimmelten bleiche Biskuits. Wir kauften ein paar Biskuits und Schokolade, die wir unverdrossen aßen, während wir durch die schmutzigen Straßen wanderten, in denen die Familien der Fischer wohnen. Wir konnten keine Milchwirtschaft finden und gingen deshalb in einen Hökerladen, wo wir für jeden eine Flasche Himbeerlimonade erstanden. Nach dieser Erfrischung jagte Mahony in einer Gasse hinter einer Katze her, aber die Katze entkam auf ein weites Feld. Wir waren beide ziemlich müde, und als wir das Feld erreichten, gingen wir gleich auf eine abfallende Böschung zu, über die hinweg wir den Dodder sehen konnten.
Es war zu spät, und wir waren zu müde, unsern Plan, das Pigeon House zu besuchen, auszuführen. Vor vier Uhr mußten wir zu Hause sein, sollte unser Abenteuer nicht entdeckt werden. Voll Bedauern betrachtete Mahony seine Schleuder, und erst als ich ihm vorschlug, wir wollten mit dem Zuge nach Hause fahren, wurde er wieder einigermaßen froh. Die Sonne verbarg sich hinter einigen Wolken und überließ uns unseren müden Gedanken und den Resten unserer Vorräte. Außer uns war niemand auf dem Felde. Als wir einige Zeit ohne ein Wort zu sagen am Abhang gelegen hatten, sah ich einen Mann, der vom andern Ende des Feldes her näher kam. Ich beobachtete ihn lässig, während ich an einem jener grünen Halme kaute, mit deren Hilfe die Mädchen wahrsagen. Langsam kam er die Böschung entlang. Beim Gehen stützte er die eine Hand in die Hüfte, in der andern Hand hielt er einen Stock, mit dem er leicht auf den Rasen schlug. Er trug einen schäbigen, grün-schwarzen Anzug und dazu einen sogenannten Schriliber mit hohem Kopf. Er sah ziemlich alt aus, denn sein Schnurrbart war aschgrau. Als er an unseren Füßen vorbeikam, warf er uns einen schnellen Blick zu und ging dann weiter. Wir blickten hinter ihm her und sahen, daß er nach ungefähr fünfzig Schritten umkehrte und wieder zurückkam. Ganz langsam schritt er auf uns zu, schlug dabei immer mit dem Stock auf den Boden; er ging so langsam, daß ich glaubte, er suche etwas im Grase. Als er vor uns stand, machte er halt und sagte uns guten Tag. Wir erwiderten den Gruß; langsam und sehr sorgfältig setzte er sich auf den Abhang. Zuerst sprach er vom Wetter, sagte, es würde ein sehr heißer Sommer, und fügte hinzu, daß sich seit seiner Knabenzeit die Jahreszeiten sehr geändert hätten – aber das wäre schon lange her. Er sagte, die schönste Zeit des Lebens sei zweifellos die Schulzeit, und alles würde er darangeben, könnte er noch einmal jung sein.
Während er diesen Gefühlen, die uns ein wenig langweilten, so Ausdruck verlieh, sagten wir kein Wort. Dann fing er an, über Schule und Bücher zu sprechen. Er fragte uns, ob wir die Gedichte des Thomas Moore oder die Werke von Sir Walter Scott und Lord Lytton gelesen hätten. Ich tat so, als hätte ich jedes Buch, das er erwähnte, gelesen, so daß er schließlich sagte:
»Sieh mal an, du bist genau so ein Bücherwurm wie ich. Aber der«, fügte er, auf Mahony zeigend, hinzu, der uns mit offenen Augen anstierte, »der ist ganz anders, er spielt lieber.«
Er sagte, er hätte zu Hause alle Bücher von Sir Walter Scott und von Lord Lytton und läse sie immer wieder. Natürlich, sagte er, dürfen kleine Jungen gewisse Bücher des Lord Lytton nicht lesen. Mahony fragte, warum Jungens sie denn nicht lesen dürften – welche Frage mich aufregte und ärgerte, weil ich fürchtete, der Mann könnte mich für so stupide halten wie Mahony. Der Mann aber lächelte nur. Ich sah, daß er zwischen den gelben Zähnen im Munde große Lücken hatte. Dann fragte er uns, wer von uns die meisten Liebchen hätte. Mahony erwähnte so leichthin, er hätte drei Puttchen. Der Mann fragte mich, wieviel ich denn hätte. Ich antwortete, ich hätte keine einzige. Er glaubte mir nicht und sagte, er wäre sicher, daß ich doch eine hätte. Ich antwortete nichts.
»Erzählen Sie uns doch mal«, sagte Mahony ganz offen zu dem Mann, »wieviel Sie selbst haben.«
Wieder lächelte der Mann und sagte, daß er, als er in unserem Alter war, eine Menge Liebchen gehabt hätte.
»Jeder Junge«, sagte er, »hat ein kleines Liebchen.«
Seine Einstellung in dieser Sache kam mir für einen Mann seines Alters ziemlich frei vor. In meinem Herzen dachte ich, daß das, was er über Jungens und Liebchen sagte, vernünftig war. Aber in seinem Munde mißfielen mir diese Worte, und ich fragte mich, warum er zwei- oder dreimal zusammenschauderte, als hätte er vor etwas Angst oder fühlte plötzliche Kälte. Als er weiterredete, bemerkte ich, daß er eine gute Aussprache hatte. Jetzt sprach er mit uns über Mädchen, sagte, was für schönes, weiches Haar sie hätten, wie weich ihre Hände wären und daß alle Mädchen gar nicht so brav wären, wie sie täten, man müßte nur Bescheid wissen. Nichts betrachte er so gerne, sagte er, wie ein schönes, junges Mädchen, ihre schönen, weißen Hände und ihr schönes, weiches Haar. Ich hatte dabei den Eindruck, als wiederholte er etwas, das er auswendig gelernt hatte, oder um das sich sein Geist, von denselben Worten magnetisiert, immer wieder langsam im Kreise drehte. Manchmal klang es, als spiele er auf eine Tatsache an, die jeder wüßte, und dann wieder dämpfte er seine Stimme und sprach geheimnisvoll, als erzähle er uns ein Geheimnis, das kein anderer hören dürfe. Er wiederholte seine Sätze immer wieder, variierte sie und hüllte sie in seine monotone Stimme. Ich sah immer nach dem Fuß des Abhangs, hörte auf seine Worte.
Nach langer Zeit war sein Monolog zu Ende. Langsam stand er auf, sagte, er müsse uns eine Minute oder so verlassen, und ohne daß ich die Richtung meines Blickes zu ändern brauchte, sah ich ihn langsam