Nikomachische Ethik. Aristoteles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aristoteles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 4064066388263
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so eintrifft bald anders, wie Dürre und Regen, und das Zufällige, wie das Auffinden eines Schatzes. Aber auch nicht die menschlichen Dinge insgesamt; so überlegt z. B. kein Lacedämonier, welches für die Scythen die beste Staatsverfassung wäre. Von all diesem wird nichts durch uns getan. Handlungen, die bei uns stehen, die überlegen wir, und die sind auch allein noch übrig.

      Als Ursachen gelten nämlich die Natur, die Notwendigkeit und der Zufall, sodann der Verstand und alles menschliche Tun. Jeder Mensch aber überlegt das, was durch ihn selbst (1112b) getan werden kann. Im Bereich der exakten und selbständigen Fächer freilich, z. B. bezüglich der Schriftzeichen, gibt es keine Überlegung – es ist ja kein Streit darüber, wie man sie schreiben muß –, wohl aber überlegen wir das, was durch uns selbst geschieht, aber nicht immer in derselben Weise, so z. B. das Verfahren in Ausübung der Heilkunst und beim Erwerb; auch ist in der Steuermannskunst, weil sie weniger auf feste Regeln gebracht ist, mehr Raum für Überlegung als in der Gymnastik, und so im übrigen, nur daß die Künste, weil hier die Meinungen weiter auseinandergehen, mehr Überlegung erfordern als die Wissenschaften. Das Überlegen bewegt sich ferner um das, was meistens eintrifft, ohne daß jedoch der Ausgang ganz sicher ist, und um das, was unentschieden ist. Mitberater ziehen wir bei großen Dingen zu, wo wir uns selbst nicht das genügende Urteil zuschreiben.

      Unsere Überlegung betrifft nicht das Ziel, sondern die Mittel, es zu erreichen. Der Arzt überlegt nicht, ob er heilen, der Redner nicht, ob er überzeugen, der Staatsmann nicht, ob er dem Gemeinwesen eine gute Verfassung geben, und überhaupt niemand, ob er sein Ziel verfolgen soll, sondern nachdem man sich ein Ziel gestellt hat, sieht man sich um, wie und durch welche Mittel es zu erreichen ist; wenn es durch verschiedene Mittel möglich scheint, sieht man zu, durch welches es am leichtesten und besten erreicht wird; und wenn es durch eines regelrecht verwirklicht wird, fragt man wieder, wie es durch dasselbe verwirklicht wird, und wodurch wiederum jenes, bis man zu der ersten Ursache gelangt, die als letzte gefunden wird62. Auf diese so beschriebene Weise verfährt man bei der Überlegung suchend und analysierend, d. h. zergliedernd, wie wenn es sich um die Konstruktion einer geometrischen Figur handelte. Doch ist nicht jedes Suchen eine Überlegung, z. B. das Suchen des Geometrikers nicht; dagegen ist jede Überlegung ein Suchen, und das, was bei der Zergliederung als letztes herauskommt, ist bei der Verwirklichung durch die Handlung das erste. Stößt man auf eine Unmöglichkeit, so steht man von der Sache ab, z. B. wenn sich Geldmittel erforderlich zeigen, die man nicht aufbringen kann. Erscheint die Sache aber möglich, so nimmt man sie in die Hand. Möglich ist was durch uns ausgeführt werden kann. Denn was mit Hilfe von Freunden geschieht, geschieht gewissermaßen durch uns selbst, da in uns die Ursache liegt, die sie zum Handeln bewegt. Man sucht bald über die nötigen Werkzeuge ins klare zu kommen, bald über die Weise ihres Gebrauchs, wie es sich auch in den übrigen Dingen bald darum handelt, wodurch, bald darum, wie oder durch welches Verfahren etwas ausgeführt werden soll.

      Der Mensch ist also wie gesagt Prinzip der Handlungen. Die Überlegung aber bezieht sich auf das, was er selbst tun kann. Was er aber tut, ist Mittel zum Zwecke. Mithin fällt der Zweck nicht unter die Überlegung, sondern die Mittel zum Zwecke. Ebenso wenig die Einzeldinge; man (1113a) überlegt z. B. nicht, ob der vorliegende Gegenstand Brod, oder ob das Brod gehörig gebacken ist. Denn das sagt uns die Wahrnehmung. Wollte man aber immer überlegen, so käme man an kein Ende63.

      Gegenstand der Überlegung und der Willenswahl ist eines und dasselbe nur mit dem Unterschied, daß das Gewählte schon bestimmt ist. Denn das, wofür die Überlegung sich entschieden hat, ist eben das Gewählte. Ein jeder hört nämlich auf zu überlegen, wie er handeln soll, wenn er den Anfang der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat, und zwar auf das, was das Herrschende in ihm ist. Das ist nämlich das Wählende. Das zeigen auch die alten Verfassungen, von denen Homer gesungen, wo die Könige das, was sie beschlossen haben, dem Volke kund geben.

      Da also Gegenstand der Willenswahl etwas von uns Abhängiges ist, das wir mit Überlegung begehren, so ist auch die Willenswahl ein überlegtes Begehren von etwas, was in unserer Macht steht. Denn insofern wir uns vorher aufgrund der Überlegung ein Urteil gebildet haben, begehren wir mit Überlegung.

      So hätten wir denn die Willenswahl in allgemeinen beschrieben, auch gesagt, welcherlei Dinge sie umfaßt, und daß sie sich auf die Mittel zum Zwecke bezieht.

      Sechstes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Was den Willen betrifft, so wurde bereits gesagt, daß er auf den Zweck geht. Doch meinen die einen, er gehe auf das Gute, die anderen, er gehe auf das gut Scheinende. Für die, welche das Gute als Gegenstand des Wollens bezeichnen, folgt aber dann, daß das, was jemand will, der nicht richtig wählt, nicht als gewollt gelten kann – denn wäre es gewollt, so wäre es auch gut, und doch wäre es unter Umständen schlecht –; dagegen für die, denen das gut Scheinende Gegenstand des Wollens ist, folgt, daß der Gegenstand des Wollens nicht von Natur ein solcher ist, sondern daß es für jeden dasjenige ist, was ihm so scheint. Das ist aber bei dem einen dies, bei dem anderen ist es das, und unter Umständen das Gegenteil vom ersten.

      Wenn dieses also keinen Beifall findet, soll man da nicht sagen, schlechthin und in Wahrheit sei das Gute Gegenstand des Wollens, für den Einzelnen aber das ihm gut Scheinende? Für den Tugendhaften also sei es das in Wahrheit Gute, für den Schlechten aber jedes Beliebige, grade wie in Bezug auf den Körper denen, die sich wohl befinden, dasjenige gesund ist, was es in Wahrheit ist, dagegen den Kranken etwas anderes; und ähnlich ist es auch mit dem Bittern und Süßen, dem Warmen, dem Schweren u. s. w. Der Tugendhafte nämlich urteilt über alles und jedes richtig und findet in allem und jedem das wahrhaft Gute heraus. Denn für jeden Habitus gibt es ein eigenes Gutes und Lustbringendes, und das ist vielleicht des Tugendhaften unterscheidendster Vorzug, daß er in jedem Ding das Wahre sieht und gleichsam die Regel und das Maß dafür ist. Die Menge aber wird durch die Lust betrogen, die ein (1113b) Gut scheint, ohne es zu sein. Darum wählen sie die Lust, als sei sie ein Gut, und fliehen den Schmerz, als sei er ein Übel.

      Siebentes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Da nun also der Zweck Gegenstand des Wollens ist und die Mittel zum Zweck Gegenstand der Überlegung und Willenswahl, so sind wohl die auf diese Mittel gerichteten Handlungen frei gewählt und freiwillig64. In solchen Handlungen bestehen aber die Tugendakte. Aber auch die Tugend wie das Laster steht bei uns. Denn wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen, und wo das Nein, da auch das Ja. Wenn demnach die tugendhafte Handlung bei uns steht, so steht auch deren tugendwidrige Unterlassung bei uns, und wenn die tugendhafte Unterlassung bei uns steht, so steht auch die tugendwidrige Begehung bei uns. Steht es aber bei uns, das Gute und das Böse zu tun und zu unterlassen – und das machte nach unserer früheren Darlegung die Tugendhaftigkeit und Schlechtigkeit der Person aus –, so steht es folgerichtig bei uns, sittlich und unsittlich zu sein.

      Demnach ist der Ausspruch, daß »mit Willen schlecht und ungern glücklich keiner ist«, teils falsch, teils wahr65. Niemand ist unfreiwillig glücklich, aber die Schlechtigkeit ist etwas Freiwilliges. Oder man müßte unsere Ausführungen von vorhin anzweifeln und läugnen, daß der Mensch das Prinzip und der Urheber seiner Handlungen sei, wie er auch der Vater seiner Kinder ist. Muß man uns aber beipflichten, und können wir unsere Handlungen auf keine anderen Prinzipien als auf solche zurückführen, die in unserer Macht stehen, so folgt notwendig, daß wessen Prinzip bei uns steht, das auch selbst bei uns steht und freiwillig ist.

      Dafür legen nicht blos die Einzelnen für sich, sondern auch die Gesetzgeber selbst Zeugnis ab. Denn sie züchtigen und strafen die, welche Böses tun, so weit es nicht aus Zwang oder unverschuldeter Unwissenheit geschehen ist; die aber das Gute tun, zeichnen sie aus, wobei ihre Absicht ist, die einen zu ermuntern, die anderen abzuschrecken. Niemand aber muntert zu Dingen auf, die nicht bei uns stehen und nicht freiwillig sind, da es gar nichts nützen könnte, wenn man sich überreden ließe, keine Hitze oder Schmerz oder Hunger oder sonst dergleichen