»Wir müssen im Leben alle Dinge tun, die wir nicht mögen. Es gibt Fächer, die dir nicht gefallen, aber du lernst sie, um für das spätere Leben gerüstet zu sein.«
Verdammt! Es war die Für-das-Leben-gerüstet-Ansprache. Das konnte nicht nur dauern, es gab auch keine Gegenargumente.
Und da ging es bereits weiter.
Direktor Arnold schien Übung darin zu haben, denn die Sätze wirkten einstudiert, als habe er sie schon hundert Mal aufgesagt.
»… beispielsweise Mathematik.« Nach geschlagenen fünfzehn Minuten kam der Direktor zum Ende. »Trotzdem ist es wichtig.«
»Hm«, verlegte sich Lukas auf so wenig Angriffsfläche wie möglich.
»Wir sind uns also einig?«, hakte Direktor Arnold schließlich nach.
Und was hätte Lukas auch antworten sollen? »Klar. Ich freue mich darauf.«
»Etwas mehr Begeisterung, dann sehe ich großartige Theaterstücke vor uns, in denen du die Hauptrolle übernehmen darfst.«
Was für Lukas bedeutete, besagte Begeisterung auf ein Minimum zu reduzieren. Möglicherweise konnte er Schlimmeres verhindern, wenn er sich so schlecht anstellte, dass man ihm keine Rolle geben konnte. Er könnte doch zum Beispiel als Baum in der Ecke stehen.
Der Direktor, der ihn die ganze Zeit eindringlich gemustert hatte, ergänzte: »Es gibt übrigens Noten.«
Konnte er etwa Gedanken lesen? Vermutlich war auf Lukas’ Gesicht das Entsetzen abzulesen.
»Ich war auch mal jung. Und jetzt raus mit dir.« Schon wandte sich der Direktor der nächsten Akte zu.
Vor der Tür atmete Lukas tief ein und wieder aus. Er musste Theater spielen! Wie hatte es nur so weit kommen können?
Wütend warf er sich gegen die Schwingtür und trat ins dämmrige Tageslicht. Im gleichen Augenblick fielen die ersten Regentropfen.
»So ein Zufall«, erklang Ellas Stimme. »Du bist auch noch hier.« Es klickte, als sie den Regenschirm aufspannte. »Da können wir uns auf dem Heimweg weiter unterhalten. Willst du unter den Schirm?«
Schweigend zog Lukas die Kapuze seines Hoodies über und stapfte in den Regen. Ella folgte ihm.
Eine Freitagsüberraschung
Endlich!
Die Woche neigte sich dem Ende zu, was Lukas’ Martyrium beendete. Der Vorfall mit dem Chat hatte dafür gesorgt, dass er Internetverbot erhielt. Zusätzlich war sein Vater plötzlich erpicht darauf, aus Lukas ein Mathematikgenie zu machen. Stundenlang saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer über irgendwelchen komplizierten Hausaufgaben, die durch erbarmungslose Übungen erweitert wurden. Durch die Zusatzaufgaben war Lukas abends zum Umfallen müde. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, fiel er aufs Bett und schlief ein. Lukas kam sich vor wie in einem Gefängnis. Einem, das von zwei Aufsehern mit Habichtsaugen geleitet wurde.
Glücklicherweise endete seine Tortur mit dem Ende der Woche. Da samstags keine Schule war, würde seine Mutter ihn nicht länger kontrollieren und sein Vater hatte es inzwischen aufgegeben, aus ihm ein Genie zu machen.
»Jetzt kehren wir alle zurück zu unserem inneren Ausgleich«, verkündete Lukas’ Mutter am Abend. »Unser Sohn hat seinen Fehler eingesehen, damit ist alles vergeben und vergessen.«
»Und wird sich nicht wiederholen«, betonte sein Vater mit einem scharfen Blick.
Lukas nickte verbissen. Sohn eines Lehrers zu sein brachte so viel Nachteile mit sich. Bruder einer kleinen Schwester zu sein ebenfalls, wie er die Woche über wieder einmal hatte feststellen dürfen. Immer wieder war das Schwestermonster an ihm vorbeigelaufen und hatte gerufen: »Das Internet ist weg, es kommt bestimmt nie wieder.«
Endlich war das Abendessen zu Ende. Lukas raste in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.
»In diesem Haus werden keine Türen geknallt«, brüllte sein Vater.
Sicherheitshalber schob Lukas den Riegel vor, der an der Innenseite angebracht war. Vor dem Fenster zog die Dunkelheit herauf und Regentropfen trommelten in einem stetigen Tock, Tock gegen die Fensterscheibe. In Winterstein regnete und stürmte es ständig.
Lukas schlüpfte in seine Turnschuhe, schnappte sich seinen Rucksack und zog das Buch aus dem Regal, das den geheimen Mechanismus auslöste. Lautlos glitt die Tür hervor. Warmes Licht empfing ihn, als er die Treppenstufen immer zwei auf einmal nehmend nach oben sauste.
Das Studierzimmer erwartete ihn, wie er es verlassen hatte. Die Tiegel mit Pulver und Fläschchen mit Flüssigkeit standen auf den Regalen, Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Tisch, das Pendel der Standuhr schwang von links nach rechts.
Er schnappte sich die Schale mit dem Flüsterpulver und streute vorsichtig einen Teil auf sein Gesicht. Das blaue Pulver flirrte wie Sternenstaub, als die Magie zu wirken begann. Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte Lukas, dass er den Wald in seiner magischen Form erkennen konnte. Obgleich tiefste Nacht war, waberte die schimmernde Schutzsphäre deutlich sichtbar unter dem Sternenhimmel. Zwischen dem Geäst zeichneten sich Schemen ab.
»Wo fange ich an?«
Er hatte beschlossen, wieder einfach in den Wald hineinzulaufen. Irgendwie würde er Rani, Felicitas und Punchy schon finden. Gerade wollte er sich der Treppe zuwenden, als ihm etwas ins Auge stach.
Auf dem Tisch lag ein winziger Zettel, auf den jemand etwas geschrieben hatte. Ein Wort, das keinen Sinn ergab. Es sah nicht nach der Schrift des Professors aus und er war sich auch ziemlich sicher, dass der Zettel bei seinem letzten Besuch nicht da gelegen hatte. Ein Wesen des Flüsterwalds war hier gewesen! Mit gerunzelter Stirn wendete er das Blatt, doch es gab keinerlei Hinweis, was er tun sollte.
Leise murmelnd sprach er das Wort.
Wie angeknipst begann die Halbkugel in der Standuhr zu glühen, die Zeiger verstellten sich auf fünf vor zwölf (auch wenn es keine Zahlen, sondern seltsame Symbole waren, die an der Uhr angebracht waren). Das Pendel klappte beiseite. Dahinter kam das blau-weiße Flirren zum Vorschein, das für ein Portal typisch war.
Entsetzt wich Lukas zurück.
War das eine Falle?
Seine Gedanken wurden von einem pelzigen Bündel unterbrochen, das frontal gegen ihn knallte. Aufschreiend kippten sie beide um.
»Rani!«, rief Lukas.
»Wieso stehst du vor der Standuhr, wenn ein Portal sich öffnet?« Der Menok reichte ihm nur bis zum Knie, als er sich aufrichtete und das zerzauste Fell mit seinen Händen und dem Greifschwanz glattstrich. Seine Lesebrille hatte er nicht aufgesetzt.
»Ich wusste ja nicht, dass ihr kommt.«
Die Arme in die Hüfte gepresst, stellte sich der Menok vor dem Portal auf. »Es weiß doch jeder, dass man besser zur Seite geht, wenn es wabert.«
Mit einem Klong krachte Rani gegen das gegenüberstehende Regal, als Punchy wie eine Kanonenkugel durch das Flimmern geflogen kam. Ein aus Ton getöpfertes Etwas fiel herab und zerbrach in Scherben.
»Ja«, kommentierte Lukas trocken. »Du hast vollkommen recht, das sollte man wissen und besser nicht davorstehen.«
War das eine Art Grinsen auf Punchys Gesicht, das er da sah? Lukas blinzelte. Im nächsten Augenblick leckte sie sich bereits wieder gelangweilt die Tatzen, als sei ihr die Welt egal.
Den Abschluss bildete Felicitas, die armlange Elfe, die aufgeregt mit den Flügeln schlug. »Lukas, es ist so schön, dich zu sehen!« Ihr Blick fiel auf Punchy und Rani. »Ich habe die Stärke der Magie wohl ein klitzekleines bisschen unterschätzt. Der Flug war doch sehr