Er ist ein Überzeugungstäter mit großen Visionen und konkreten Zielen. Er brennt lichterloh für sein Lebensanliegen. Wo immer er tätig wird, sollen Menschen eine zweite Chance bekommen. Soll nicht nur der Verbrecher in ihnen gesehen werden, der Gescheiterte, der Heimatlose, der Geflüchtete, der Außenseiter. Sondern der von Gott geliebte, einzigartig geschaffene Mensch.
Ich höre Tobias Merckle zu. Lerne ihn immer ein bisschen mehr kennen. Und begreife allmählich: Diese verschiedenen Faktoren bzw. die Erfahrungen von vor langer Zeit haben seine Persönlichkeit zu dem heranreifen lassen, der er heute ist.
Im Bild gesprochen: Das „Schaufenster“ dieses außergewöhnlichen Mannes ist eher spartanisch eingerichtet. Es deutet nur an, welchen Reichtum es „im Laden“ zu entdecken gibt. Und genau diesen Reichtum möchte ich mit diesem Buch vorstellen.
Tobias Merckle hat ganz feine Antennen für die riesengroßen Probleme der Menschen im Strafvollzug. Und genauso auch für andere Außenseiter der Gesellschaft, die dringend Hilfe brauchen. Ihm ist sonnenklar: Solche Menschen einfach auszugrenzen oder wegzusperren, löst keine Probleme. Weder für die Gefangenen. Noch für die Gesellschaft, die vor ihnen geschützt werden soll. Denn Gefängnisse sorgen nicht für eine Verbesserung der Lage, nicht für eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Im Gegenteil: Sie sind oft eine „Schule des Verbrechens“. Viele kriminelle Karrieren beginnen ausgerechnet im Jugendgefängnis.
Selbst in Deutschland ist das so. Obwohl sich hier doch viele engagierte Gefängnismitarbeiter für die Inhaftierten einsetzen und ihnen im Bereich Ausbildung und Schule viele Angebote machen. Die „Subkultur“ aber – die negative Gemeinschaftskultur vieler junger Häftlinge – zerstört oft alles wieder, was Anstaltsleitung, Psychologen und andere Mitarbeiter aufzubauen versuchen. Ein Gefängnis ist eben nicht der ideale Ort, um Menschen Verantwortung beizubringen und sie auf ein Leben ohne Straftaten vorzubereiten.
Tobias Merckle will und kann das nicht hinnehmen. Auf erstaunliche Weise empfindet er ein Gefühl der Liebe für die Gefangenen. Er liest den Hinweis durch den Propheten Hesekiel auf den besonderen Auftrag für die halsstarrigen und verhärteten Köpfe. Und erlebt schließlich die Bestätigung durch den Petrusbrief: Das ist deine Berufung.
Für Tobias ist danach vollkommen eindeutig klar: Ich bin gemeint.
Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Äußerlich ändert sich zwar erst einmal gar nichts – Tobias Merckle arbeitet weiterhin als Helfer in der Drogentherapie bei Teen Challenge mit. Drei Monate später endet seine Dienstzeit dort. Er besucht eine spezielle Silvesterfeier von Teen Challenge, bei der an die sechshundert Männer zusammenkommen. Einige von ihnen erzählen aus ihrem Leben. Erschütternd, wie sie durch Alkohol oder Drogen auf die schiefe Bahn gerieten, alles verloren, auf der Straße landeten. Ein ehemaliger Abhängiger berichtet von seinem absoluten Tiefpunkt. Dass er sich selbst mit einer abgesägten Schrotflinte umbringen wollte. Wie er im letzten Moment gefunden wurde, mit schweren inneren Verletzungen und in einer Lache von Blut. Ärzte konnten ihm helfen. Sein Leben retten. Anschließend landet der Junkie bei Teen Challenge. Und feiert jetzt zum ersten Mal in seinem Leben einen Silvesterabend voller Hoffnung für das nächste Jahr.
Tobias Merckle hört zu und staunt. Die Lektion dieses Abends passt für ihn genau zu seiner Berufung, die er ein Vierteljahr vorher erlebt hat: „Gott gibt jedem Menschen eine Chance“.
Von jetzt an will er seinen Beitrag dazu leisten, dass viele Menschen das erleben können.
3.
Die Last der Vergangenheit –
Peter
Diese Nacht wird Peter nie mehr vergessen. Der große Fehler, den er gemacht hat, wird ihn beschäftigen bis ans Ende seines Lebens. Auch dann noch, wenn er seine Haftstrafe abgesessen hat und wieder ein freier Mann ist. Denn Peter trägt Verantwortung dafür, dass ein junger Mensch wie er jene Nacht im Jahr 2017 nicht überlebt hat. Und das kam so:
Zum Sommerfest trifft sich die gesamte Jugend des Dorfes, in dem Peter lebt. Peter ist gerade fertig mit der Schule. Hat die Fachhochschulreife in der Tasche. Hat begonnen mit einem Bundesfreiwilligenjahr in einem Krankenhaus. Will sich anschließend zum Kinderpfleger ausbilden lassen. Kriminell ist Peter nicht. Aufgewachsen ist er in geordneten Verhältnissen. Aber er säuft. Nicht regelmäßig. Aber wenn, dann maßlos. Leider.
Genau das hat er auch beim Sommerfest vor. Deswegen hat er sein Auto sicherheitshalber bei einem Freund abgestellt. Dort will er übernachten. Und erst am nächsten Morgen weiterfahren.
Doch dann bitten ihn irgendwelche Bekannten, sie nachts noch heimzubringen – obwohl er sturzbetrunken ist. „Damals war ich nicht willensstark“, erinnert sich Peter (der für dieses Buch einen anderen Namen gewählt hat).
Was genau geschehen ist? Er weiß es nicht mehr. Hat nur noch Bruchstücke der verhängnisvollen Nacht im Kopf. Er muss die flüchtigen Bekannten ins Auto geladen haben. Losgefahren sein. Und dabei dann einen Jugendlichen übersehen haben, der einfach so auf der Straße lag. Vermutlich ebenfalls schwer alkoholisiert.
Peter überrollt ihn. Realisiert nicht, was er tut. Und fährt weiter. Gegen halb vier Uhr morgens landet er im Bett. Nur neunzig Minuten später weckt ihn die Polizei. Peter, sein Bruder und auch seine Schwester werden mit zur Wache genommen und verhört. Sie erfahren: Der Jugendliche ist an den Folgen des Unfalls gestorben.
Peter ahnt, dass sein Leben von nun an einen anderen Verlauf nehmen wird als geplant.
Peter wird zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt, u. a. wegen fahrlässiger Tötung und Fahrerflucht. Zwei Monate lang durchlebt er den monotonen Alltag im Jugendknast Adelsheim. Dann landet er im Seehaus – einer alternativen Form von Jugendgefängnis.
Von der Ankunft im Seehaus an bemerkt Peter: Hier weht ein vollkommen anderer Wind. Hier werden junge Straftäter nicht weggesperrt, nicht abgeschoben, nicht sich selbst überlassen. Hier werden sie als Menschen ernst genommen.
Und hier werden sie von Anfang an auf den Tag ihrer Entlassung vorbereitet. Hier müssen sie sich an einen sehr streng geregelten Tagesablauf gewöhnen. Müssen eine ganze Fülle von festen Regeln einhalten. Sind sie von frühmorgens bis spätabends unter Beobachtung. Müssen beim Sport mitmachen, müssen lernen, müssen arbeiten. Müssen sich daran gewöhnen, angemessen und höflich miteinander zu sprechen. Müssen auf Kraftausdrücke und Gewalt verzichten. Zusammenarbeiten statt gegeneinander zu kämpfen.
Und nur wer all das begreift und sich entsprechend verhält, kann sich kleine „Erleichterungen“ verdienen – er darf zu festgelegten Zeiten rauchen. Mit der Freundin telefonieren. Später einen Besuch zu Hause machen.
Wer sich im Seehaus auf die Welt „draußen“ vorbereiten will, der dient sich gewissermaßen hoch in einer Hierarchie mit jeweils festgeschriebenen Regeln und Erleichterungen.
Im Seehaus – das hat Peter schon in Adelsheim erfahren – sind nur Freiwillige. Freiwillige wie er, der ganz bewusst hierher wollte. Jugendliche Straftäter, die niemanden umgebracht haben und auch kein Sexualdelikt begangen haben. Die aus dem Jugendgefängnis heraus mit eigener Hand einen Antrag schreiben und abschicken mussten: Ich will meine Haftstrafe unter den harten Bedingungen des Seehauses angehen, statt sie im Gefängnis nur „abzusitzen“. Ich will es lernen, aus dem Kreislauf der Kriminalität auszusteigen.
Peter ist vom Elternhaus her Disziplin und Arbeit gewöhnt. Und so kommt er schnell zurecht mit den Regeln in der für ihn noch vollkommen fremden Seehaus-Welt. Schon im Jugendgefängnis in Adelsheim hat er die sogenannten „zwölf Grundlagen“ auswendig gelernt.