Meine Arbeit an dem Text beschränkt sich darauf, ihn einem im Schriftlichen üblichen Textduktus anzupassen. Man wird mithilfe des Textes, wenn man möchte, die auf den Tonbandkassetten dokumentierte Vorlesung mitlesen können, jedoch bemerken, dass ich Wörter umgestellt und manche im Mündlichen üblichen Füllwörter wie »natürlich«, »wirklich«, »eigentlich«, »überhaupt« oder »vor allen Dingen« ausgelassen habe. Alle Fußnoten stammen von mir, aber auch hier habe ich mich in der Regel darauf beschränkt, die bibliografischen Referenzen für von Luhmann gegebene Verweise zu ergänzen. Der Sachindex beschränkt sich auf Haupteinträge, sodass er gleichsam wie ein ergänzendes Inhaltsverzeichnis zu benutzen ist.
Großer Dank gebührt dem Audiovisuellen Zentrum der Universität Bielefeld, das die Tonbandaufnahme der Vorlesung sichergestellt hat, und Christel Rech-Simon, die die Vorlesung in eine erste Textfassung transkribiert hat.
Der Band ist der Erinnerung an die präzise Konzentration, die persönliche Bescheidenheit und die ruhige Heiterkeit gewidmet, mit denen Niklas Luhmann es verstand, seine Vorlesungen zu halten.
Dirk Baecker, im Juli 2002
I.Soziologie und Systemtheorie
Erste Vorlesung
Meine Damen und Herren, die Vorlesung Einführung in die Systemtheorie, mit der ich heute beginne, wird an einer soziologischen Fakultät gehalten und ist in erster Linie an ein soziologisches Publikum adressiert. Die Frage, die wir gleich anfangs ins Auge fassen müssen, ist jedoch, ob es so etwas wie Systemtheorie auf dem aktuellen Stand der Forschung in der Soziologie heute überhaupt gibt. Die Soziologie steckt in einer tiefen Theoriekrise, das kann man, glaube ich, ohne viele Vorbehalte sagen. Wenn man Veranstaltungen über Theoriefragen in der Soziologie besucht oder entsprechende Literatur liest, findet man dominierend einen Rückgriff auf Klassiker, also Diskussionen über Max Weber, Karl Marx, Georg Simmel oder Émile Durkheim. Die heutigen Soziologen sind durchaus nicht unkritisch gegenüber ihren klassischen Grundlagen, aber es herrscht doch die Vorstellung vor, dass die Konturen des Faches durch diesen klassischen Anfang bestimmt sind. Es gibt einige middle-range-Theorien, die darüber hinausreichen und die aus der empirischen Forschung entstanden sind, aber es gibt eigentlich keine theoretische Beschreibung der Probleme, vor denen sich die moderne Gesellschaft heute findet. Das gilt zum Beispiel für Ökologiefragen. Das gilt für Probleme mit den Einzelmenschen, den Individuen. Das gilt für den ganzen Bereich zunehmender Therapiebedürftigkeit und vieles andere mehr.
Die eigentlich faszinierenden intellektuellen Entwicklungen finden heute außerhalb des Faches der Soziologie statt. Das ist jedenfalls der Eindruck, von dem ich ausgehe. Ich möchte daher zunächst einmal in einem kurzen ersten Teil versuchen zu zeigen, wie man in der Soziologie bisher mit systemtheoretischen Orientierungen gearbeitet hat und wie, in welchen Formen man dabei auf Grenzen, auf Sackgassen, auf prinzipielle Theoriekritik gestoßen ist und dann nicht weitergemacht hat.
Darauf wird ein relativ umfangreicher Teil folgen, in dem ich versuchen will, interdisziplinäre oder transdisziplinäre Theorieanstrengungen durchzusehen, um herauszubekommen und vorzuführen, was daran möglicherweise für die Soziologie interessant ist. In den abschließenden Überlegungen werde ich versuchen, aus diesen Theorieüberlegungen – das können mathematische, psychologische, biologische, epistemologische, kybernetische und so weiter Quellen sein – für die Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung Schlüsse zu ziehen.
Die Vorlesung wird in relativ abstrakten Theoriekonzepten enden, die im soziologischen Alltagsbetrieb erst noch auf ein forschungsfähiges Format zugeschnitten werden müssen. Das betrifft Begriffe wie Zeit, Sinn, Handlung, System, doppelte Kontingenz, Struktur und so weiter.
1. Funktionalismus der Systemerhaltung
Ich beginne mit dem Versuch zu skizzieren, was sich in den 40er- und 50er-Jahren in der Soziologie, und zwar vornehmlich, ja fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten, als soziologische Systemtheorie herausgebildet hat. Dabei sind es im Wesentlichen zwei Bereiche, auf die man achten muss. Der erste Bereich läuft unter dem Titel Strukturfunktionalismus oder Bestandsfunktionalismus, und der zweite Bereich ist eine Eigenleistung von Talcott Parsons. In beiden Hinsichten ist es gegen Ende der 60er-Jahre zu einer erheblichen ideologischen Kritik des systemtheoretischen Ansatzes gekommen. Schon diese Kritik war eher ideologisch als substanziell theoretisch fundiert, aber sie hat ausgereicht, um die weiteren Arbeiten an einer soziologischen Systemtheorie mehr oder weniger auszuschalten.
Wenn man heute in die Vereinigten Staaten kommt und mit Soziologen diskutiert und sich zu einem systemtheoretischen Ansatz bekennt, hört man oft erstaunte Kommentare, so als ob man mindestens 20 Jahre hinter der Entwicklung des Faches zurück sei, während von mir aus gesehen gerade umgekehrt Soziologen, die die Systemtheorie für eine erledigte Sache halten, ihrerseits nicht wahrnehmen, was sich im interdisziplinären Feld inzwischen entwickelt hat.
Natürlich spielen dabei Disziplinbarrieren eine Rolle, aber sie müssen nicht unbedingt unüberwindlich sein. Kein Zweifel zunächst einmal, dass von heute aus gesehen die Ansätze, die in den 40er- und 50er-Jahren entwickelt worden sind, erhebliche Schwächen aufweisen. Ich will ganz kurz skizzieren, was man damals unter »Bestandsorientierung«, »Bestandsfunktionalismus« oder auch »Strukturfunktionalismus« verstanden hat.
Ausgangspunkt waren ethnologische, sozialanthropologische Forschungen, die mit bestimmten tribalen Settings arbeiten, also mit Stämmen, die irgendwie isoliert oder als Gegenstände der Forschung begrenzbar erschienen und zugleich in einer historischen Gestalt, in einem bestimmten Volumen, einer Größe mit bestimmten Strukturen und so weiter erkennbar und erforschbar waren. Von da aus kam man offensichtlich nicht zu einer allgemeinen soziologischen Theorie, also zu einer allgemeinen Frage, wie denn überhaupt soziale Ordnung möglich sei oder was ein soziales System, eine soziale Ordnung unterscheide zum Beispiel von psychischen oder biologischen Phänomenen.
Für diese Beschränkung auf einen vorgegebenen Gegenstand hat Talcott Parsons in dem Buch The Social System von 1951 eine plausible Erklärung gegeben. Der Soziologe müsse einen konturierten, begrenzten Gegenstand vor Augen haben, wenn er überhaupt anfangen wolle zu forschen. Es sei für die Soziologie bei dem momentanen Stand der Entwicklung schlechterdings unmöglich, sich eine Art newtonsches Variablenmodell vorzustellen, wonach bestimmte Variablen angegeben würden, aber die kombinatorischen Verhältnisse zunächst einmal ungeklärt blieben, denn im Bereich der Soziologie gibt es kein Äquivalent für Naturgesetze, auch nicht, vermutet Parsons, in einem rein statistischen Sinne. Deshalb brauchte man eine zweitbeste Theorie: eine Theorie, die sich bestimmte Systemstrukturen als Ausgangspunkt vorstellt und von dort aus zu erkennen versucht, welche Funktionen zur Erhaltung der Strukturmuster dienen. Das hatte Ende der 40er-Jahre und in den 50er-Jahren zu Fragen geführt wie zum Beispiel: Was sind die Bestandsvoraussetzungen eines sozialen Systems? Was sind insbesondere die Bestandsvoraussetzungen einer Gesellschaft? Welche Mindestanforderungen an Erhaltung und an Problemlösung müssen erfüllt sein, damit eine Gesellschaft überhaupt bestehen kann? Sie muss natürlich bestehen, wenn man sie erforschen will. Das hat dann allerdings bestenfalls nur zu einer Liste, zu einem Katalog von solchen Bestandsvoraussetzungen geführt, die theoretisch nicht weiter begründet werden konnten, sondern ad hoc eingeführt wurden und primär natürlich mit dem Hintergedanken, dass man bei einer Gesellschaftstheorie sowohl den Bereich der Wirtschaft als auch den Bereich der Politik, den Bereich der Familie, den Bereich der Religion und der grundlegenden Werte mit in die Theorie einbeziehen müsse.
Abgesehen von dieser Schwäche, die mir bis heute nicht eigentlich korrigierbar zu sein scheint, gab es aber als zweites Problem, dass die Begriffsarbeit durch den strukturfunktionalen Ansatz beschränkt war. Es machte wenig Sinn, nach der Funktion von Struktur zu fragen oder Begriffe wie Bestand, Bestandsvoraussetzung,