Marie-Luise und Tilla waren als Schulmädchen in Hannover gute Freundinnen gewesen, obwohl Tilla mehrere Jahre jünger als die kleine von Seydewitz war. Sie hieß damals noch nicht Tibori — diesen Namen hatte sie sich erst zugelegt, als sie zur Bühne ging —, sondern Hamburger. Ihrem Vater gehörte das größte Warenhaus am Ort. Die Hannoveraner Gesellschaft hatte den intimen Verkehr zwischen den jungen Mädchen — ein Umgang, der vom alten General Seydewitz nicht nur geduldet, sondern geradezu protegiert wurde — als etwas anstößig empfunden. Hamburgers waren zwar respektable Leute, auch wohlhabend; aber die kleine Tilla sah eben doch unerlaubt orientalisch aus mit ihren weiten, mandelförmig geschnittenen, dunklen, verführerisch feuchten Augen. Marie-Luise ihrerseits, spröd und ziemlich ungelenk, wie sie war, adorierte die reizbegnadete Freundin.
Erst als Tilla anfing, in Berlin Erfolge zu haben, und Marie-Luise den Professor von Kammer heiratete, begann die Entfremdung. Wie lang war das her? »Long long ago«, wie die Tibori nun konstatierte. Ihre Stimme hatte noch den vollen, süßen und tiefen Klang; nur schien jetzt ein Unterund Nebenton von Klage mitzuschwingen. Wie alt mochte die Schauspielerin sein? Marie-Luise rechnete geschwind, mit jener grausamen Genauigkeit, die Frauen stets haben, wenn sie das Alter ihrer Freundinnen kontrollieren. Sie kam zu dem Resultat: mindestens vierundvierzig. Dafür sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung — hochelegant, in ihrem leichten, dunkelblauen, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm, la belle Juive, immer noch, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Aber gewisse Schärfen gab es nun doch in Tillas schönem Gesicht — wie die aus echter Sympathie und leichter Schadenfreude gemischte Aufmerksamkeit der älteren Freundin konstatierte —: der dunkelrot gefärbte, große, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu großen Nüstern hatte einen nervösen Charakter — den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen.
Sie gingen, Arm in Arm, die Seepromenade entlang, weg von der Stadt. Die Bogenlampen wurden seltener, streckenweis lag der Weg im Dunkel, von den Bänken, die diskret zwischen den Gebüschen verborgen lagen, flüsterten die Liebespaare, ihr gedämpftes Gelächter vermischte sich mit dem monotonen, ganz leisen Plätschern des Sees. Die Freundinnen blieben stehen und schauten über das Wasser. »Hübsch, wie drüben, auf dem anderen Ufer die Lichter allmählich ausgehen«, sagte Marie-Luise. »Und wie die letzten sich im Wasser spiegeln . . .«
Beide mußten daran denken, wie oft sie früher — Arm in Arm, wie jetzt — durch eine milde Nacht wie diese spaziert waren — und Wasser hatte es damals wohl auch gegeben, und Lichter, die sich darin spiegelten. »Es ist wirklich beinah dreißig Jahre her . . .«, sagte eine von ihnen; vor einer halben Stunde hatten sie die erschreckende Zahl einander noch nicht eingestehen wollen. Und Tilla, nach einer großen Pause: »Es ist, um schrecklich sentimental zu werden . . . Ich fürchte, wir sind es schon. Gehen wir lieber in ein Café.« —
Im Garten des Cafés »Terrasse« war es noch ziemlich voll. Unter den Bäumen hatte man bunte Lampions angebracht; es sah nach Italienischer Nacht aus, nach »garden-party«, und mondäner sommerlicher Geselligkeit.
— »Hier ist es ja wirklich ganz nett«, bemerkte Marie-Luise, die sich neugierig und befangen umschaute. »Warum sollte es denn nicht ganz nett sein?« lachte Tilla. »Bist du denn noch nie hier gewesen?« — Darauf Marie-Luise, etwas beschämt: »Nein — zufällig noch nicht . . . Ich glaube, meine Tochter kommt manchmal her«, fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu. Tilla wurde vom Nachbartisch gegrüßt. »Es sind Kollegen von mir«, erklärte sie. » Mit einigen von ihnen habe ich noch voriges Jahr in Frankfurt zusammen gespielt. Die sind jetzt hier, am Schauspielhaus, engagiert.«
— Da haben wir also die »Emigrantenkreise«, dachte Marie-Luise. So arg sehen sie gar nicht aus. Ob Bekannte von Tilly darunter sind?
Nun erst — sie waren schon über eine Stunde zusammen — begannen die Freundinnen so recht, sich auszufragen: Was treibst du in Zürich? Wie lange bist du schon hier? Tilla berichtete, seit einem Vierteljahr habe sie alle ihre Energien darauf konzentriert, perfekt Englisch zu lernen. — In Zürich? — wunderte sich Marie-Luise. London sei ihr zu teuer gewesen, erklärte Tilla. »Hier lebe ich — bei einem Freund.« Dabei lief eine leichte Röte über die flaumige, strapazierte Haut ihres schönen Gesichtes. Sie senkte die Lider mit den langen, starren künstlichen Wimpern und betrachtete interessiert ihre langen, silbrig-rosa gefärbten Fingernägel. Zwischen den Augenbrauen trat plötzlich ein angestrengter, gequälter Zug hervor. »Es ist zu dumm«, sagte sie, leise und dunkel — ihre Stimme hatte jetzt einen seltsam hohlen Ton —, »es ist zu dumm: wirklich. Man hat nichts zurückgelegt, einfach gar nichts. Man hat gut verdient«, rief sie und hatte ein heiseres kleines Lachen. »Man hat noch besser gelebt — und nun sitzt man da!« Mit einer weiten, theatralisch stilisierten Armbewegung, welche durch die schwarze Schleier-Draperie auf ihrem Kostüm besonders effektvoll gemacht wurde, schien sie andeuten zu wollen, wie man nun »dasäße«. Die Kostbarkeit ihrer Toilette, die wunderbare Herrichtung ihres Gesichtes verloren im Zusammenhang mit ihren Worten und dem Klang ihrer Stimme den Charakter des Selbstverständlichen, nachlässig Eleganten, den sie zunächst vortäuschten. Alles, was an Tilla Tibori noch schön war, wirkte nun wie das Ergebnis harter, permanenter Anstrengungen; der Gewinn eines langen, wahrscheinlich oft qualvollen Kampfes. »Ein Agent will mich nach Hollywood bringen, sowie mein Englisch gut genug ist«, sagte sie noch, etwas hastig. »Nun — man muß alles versuchen . . .«
»Und du?« erkundigte sie sich dann. »Wir reden ja nur von mir, das ist langweilig. Warum bist du denn eigentlich von Deutschland weg, du, mit deiner garantiert reinen Rasse?«
Marie-Luise schwieg ein paar Sekunden lang, als müßte sie sich erst besinnen, warum sie eigentlich von Deutschland fort war. Schließlich sagte sie nur: »Das war doch ganz selbstverständlich. Ich bin die Frau eines Juden gewesen. — Und glaubst du denn, daß ich mich von meinen erwachsenen Töchtern verachten lassen wollte?« — Sie erschrak sofort selber ein wenig darüber, daß sie diesen Satz ausgesprochen hatte. Er war aufrichtiger, als sie jemals zu reden — und als sie meistens zu denken wagte. Tilla hatte ein zweites Glas Portwein für sie bestellt. Frau von Kammer, an Alkohol nicht gewöhnt, spürte die Wirkung.
›Wie wunderbar hochmütig sie jetzt aussieht!‹ fand ihre Freundin. ›Genau dieses Gesicht hat sie als junges Mädchen gemacht, wenn eine Lehrerin oder Kameradin sie geärgert hatte, und sie mit ihrem vernichtenden Achselzucken zu sagen schien: Was könnt ihr mir anhaben? Was soll ich mich mit euch abgeben? Ich bin die Baroness von Seydewitz!‹
»Du mußt mir von deinen Töchtern erzählen«, bat die Schauspielerin. »Marion ist doch sicher schon eine große Dame. Und wie heißt die zweite?« »Tilly«, sagte Marie-Luise. »Ja, mein guter Alfred mochte den Namen, und mir machte es Freude, sie nach dir zu nennen.« — »Hoffentlich bringt es ihr Glück«, sagte Frau Tibori, plötzlich merkwürdig ernst, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Nach einer Pause war es Marie-Luise, die wieder zu sprechen begann. »Haben wir uns denn gar nicht mehr gesehen und nicht einmal korrespondiert, seit Tilly geboren ist?« Beide waren erstaunt, auch beschämt. »Jetzt wird das anders«, versprachen sie sich. »Mein Gott, was muß erst alles passieren, damit zwei alte Dinger wie wir — die wir doch wahrhaftig mal zueinander gehört haben — sich wieder finden!«
»Nächstens werde ich dir meine Tilly vorstellen«, verhieß Marie-Luise. »Ein famoses Mädel. Sie ist gerade für ein paar Tage in Arosa, mit Freunden.«
Tilly war keineswegs nach Arosa gefahren, vielmehr nach Berlin. Ihre Unruhe, ihre Angst um Konni waren übermäßig groß geworden; es kam keine Nachricht von ihm, sie wußte nicht, wo er war, nicht einmal, ob er noch lebte; dies war nicht auszuhalten, keine Folter