»Idiot!«, stieß Maigret zwischen den Zähnen hervor.
Natürlich bekam er das Zimmer. Es war ein luxuriöses Hotel.
»Darf ich Ihr Gepäck nach oben bringen?«, fragte der Etagenkellner.
»Ich habe kein Gepäck. Bringen Sie mir ein Fernglas.«
»Ähm … Ich weiß nicht …«
»Los! Hol mir sofort ein Fernglas, egal woher!«
Seufzend zog Maigret seinen Mantel aus, öffnete das Fenster und stopfte sich eine Pfeife. Kaum fünf Minuten später hielt er ein perlmuttverziertes Opernglas in Händen.
»Es ist von der Geschäftsführerin. Sie lässt Ihnen ausrichten …«
»Ist gut jetzt! Verschwinde!«
Bald kannte er die Fassade des Citanguette in allen Einzelheiten.
Ein Fenster im ersten Stock stand offen. Man sah ein ungemachtes Bett mit einer dicken roten Daunendecke, davor bestickte Pantoffeln auf einem Schafsfell.
Das Zimmer des Patrons!
Daneben ein geschlossenes Fenster. Dann ein drittes, offenes, hinter dem eine üppige Frau im Morgenmantel ihre Haare kämmte.
Die Wirtin. Oder das Zimmermädchen.
Unten wischte der Wirt die Tische. An einem saß Inspektor Dufour bei einem Glas Rotwein.
Die beiden sprachen offenbar miteinander.
Ein Stück weiter, am Rand der gepflasterten Uferstraße, stand ein blonder junger Mann mit Trenchcoat und grauer Mütze, der das Löschen des Zements zu überwachen schien.
Das war Inspektor Janvier, einer der jüngsten Beamten der Kriminalpolizei.
In Maigrets Zimmer befand sich ein Telefon am Kopfende des Bettes. Er nahm den Hörer ab.
»Hallo? Ist dort die Rezeption?«
»Sie wünschen, bitte?«
»Verbinden Sie mich mit dem Citanguette am Ufer gegenüber.«
»Gern!«, kam es missmutig zurück.
Es dauerte lange. Von seinem Fenster aus konnte der Kommissar beobachten, wie der Wirt endlich den Lappen weglegte und zu einer Tür ging. Dann klingelte es bei ihm.
»Ich verbinde …«
»Hallo! Bin ich mit dem Citanguette verbunden? Holen Sie mir bitte den Gast ans Telefon, der gerade bei Ihnen sitzt! … Ja, den! Irrtum ausgeschlossen, ist ja sonst keiner da.«
Durch das Fenster sah er, wie der Wirt verblüfft etwas zu Dufour sagte und der daraufhin zur Kabine ging.
»Bist du’s?«
»Sie, Chef?«
»Ja, im Hotel gegenüber, du kannst es von dir aus sehen. Was macht unser Mann?«
»Er schläft.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Vorhin hab ich an seiner Zimmertür gelauscht und ihn schnarchen hören. Daraufhin hab ich sie einen Spaltbreit geöffnet und reingeschaut. Er liegt mit angezogenen Beinen in Klamotten auf dem Bett …«
»Bist du sicher, dass der Wirt ihn nicht gewarnt hat?«
»Der hat viel zu viel Angst vor der Polizei. Es gab nämlich schon mal Ärger, ist eine Weile her. Da wurde ihm mit dem Entzug seiner Lizenz gedroht. Seitdem ist er lammfromm.«
»Ausgänge?«
»Zwei: der Haupteingang und eine Tür zum Hof … Janvier ist irgendwo da draußen und bewacht sie.«
»Ist jemand in den ersten Stock hinaufgegangen?«
»Nein. Und wer raufwill, muss an mir vorbei, die Treppe beginnt direkt hinter der Theke.«
»Gut. Du isst dort zu Mittag. Versuch, wie ein Schiffsagent auszusehen. Ich rufe später wieder an!«
»Fertig?«, fragte die Telefonistin.
»Ja! Und jetzt hätte ich gern ein Bier. Und Tabak!«
»Tabak haben wir nicht.«
»Dann lassen Sie eben welchen holen.«
Maigret legte auf, schob einen Sessel ans offene Fenster, nahm fröstelnd seinen Mantel vom Haken und zog ihn an.
Um drei Uhr nachmittags saß er immer noch am selben Platz, das Fernglas auf den Knien, ein leeres Bierglas in Reichweite. Trotz des offenen Fensters roch es stark nach Pfeifenrauch.
Er hatte die Morgenzeitungen zu Boden fallen lassen. Auf der Titelseite die Polizeimeldung:
Zum Tode Verurteilter aus der Santé entflohen
Immer wieder zog der Kommissar die Schultern hoch, schlug die Beine übereinander, streckte sie wieder aus.
Um halb vier wurde er aus dem Bistro gegenüber angerufen.
»Was Neues?«, fragte er.
»Nein, der Mann schläft immer noch.«
»Und sonst?«
»Ich habe einen Anruf vom Quai des Orfèvres erhalten, wo Sie denn bleiben. Der Untersuchungsrichter möchte Sie unbedingt sprechen …«
Diesmal zog Maigret nicht die Schultern hoch, sondern murmelte etwas Unzweideutiges, legte auf und rief die Telefonistin an.
»Die Staatsanwaltschaft, Mademoiselle – dringend!«
Er wusste schon, was Coméliau sagen würde.
»Hallo? Sind Sie das, Kommissar? … Endlich! Niemand konnte mir sagen, wo Sie sind! Aber vom Quai des Orfèvres habe ich erfahren, dass Sie zwei Beamte im Citanguette postiert haben. Dann habe ich dort anrufen lassen …«
»Was gibt’s?«
»Erstens, haben Sie neue Erkenntnisse?«
»Nein, nichts! Der Mann schläft.«
»Sind Sie sicher? Ist er Ihnen bestimmt nicht entwischt?«
»Ohne zu übertreiben, könnte ich fast sagen, dass ich ihm beim Schlafen zuschaue.«
»Wissen Sie, allmählich bereue ich …«
»… dass Sie auf mich gehört haben? Aber der Justizminister war doch auch dafür!«
»Warten Sie! Die Morgenzeitungen haben die Meldung verbreitet …«
»Hab ich gesehen.«
»Aber haben Sie auch die Mittagsblätter gelesen? … Nein? Dann versuchen Sie, den Sifflet zu bekommen … Ja, ich weiß, ein Revolverblatt, trotzdem! … Bleiben Sie noch einen Moment am Apparat … Hallo? … Sind sie noch dran? … Ich lese es Ihnen vor … Eine Kolumne, Überschrift: Staatsräson … Hören Sie mich, Maigret? … Also:
Einer offiziösen Verlautbarung der Polizei zufolge, die heute von den Morgenzeitungen verbreitet wurde, ist Joseph Heurtin, der vom Schwurgericht des Département Seine zum Tode verurteilt wurde und seitdem unter strengster Bewachung stand, unter ungeklärten Umständen aus der Santé ausgebrochen.
Allerdings sind die Umstände, wie wir hinzufügen können, nicht ganz unerklärlich.
Joseph Heurtin ist nämlich gar nicht ausgebrochen, sondern wurde zur Flucht genötigt. Und das am Vorabend seiner Hinrichtung.
Nähere Einzelheiten der abscheulichen Schmierenkomödie, die heute Nacht in der Santé zur Aufführung kam, konnten wir noch nicht in Erfahrung bringen, wir gehen aber davon aus, dass die Polizei in Absprache mit der Justizbehörde hinter dem fingierten Ausbruch steckt.
Weiß Joseph Heurtin davon?
Wie auch immer, uns fehlen die Worte für diesen in der Kriminalgeschichte einmaligen Vorgang.«
Bis