Der 5. Fall
Georges Simenon
Maigret und der Kopf eines Mannes
Roman
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Kampa
1 Überwachungstrakt, Zelle 11
Irgendwo schlug eine Glocke zwei, als der Sträfling auf seiner Pritsche saß und mit großen, knotigen Händen seine angezogenen Knie umschlang.
Eine Minute etwa verharrte er so, wie unentschieden, dann plötzlich streckte er seufzend seine Glieder und erhob sich in der Zelle, linkisch, riesig, der Kopf zu groß, die Arme zu lang, die Brust eingefallen.
Sein Gesicht war ausdruckslos, man hätte höchstens eine gewisse Stumpfheit oder unmenschlichen Gleichmut darin erkennen können. Trotzdem, bevor er auf die Tür mit dem verschlossenen Guckloch zuging, reckte er die Faust gegen eine Wand.
Dahinter lag eine weitere, völlig gleich aussehende Zelle, fünf gab es insgesamt im Überwachungstrakt des Gefängnisses La Santé.
Hier warteten zum Tode Verurteilte darauf, entweder begnadigt oder eines Nachts von einer würdevoll auftretenden Gruppe wortlos aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Seit fünf Tagen klagte einer hinter dieser Wand, Stunde für Stunde, Minute für Minute, manchmal gedämpft und monoton, dann wieder schrie, heulte, brüllte er in ohnmächtiger Auflehnung.
Nummer 11 hatte seinen Nachbarn nie gesehen und wusste nichts von ihm. Allenfalls verriet dessen Stimme, dass er noch ganz jung war.
Gerade war nur ein mattes, mechanisches Seufzen zu hören, doch der, der gerade aufgestanden war, ballte die Fäuste, dass die Knöchel hervortraten, und ein Funken Hass blitzte in seinen Augen auf.
Aus dem Flur, den Innen- und Außenhöfen, der gesamten Festung, die dieses Gefängnis ist, aus den Straßen ringsum, ja aus ganz Paris drang kein Geräusch.
Nur dieses Gejammer von Nummer 10!
Nummer 11 zog krampfhaft an seinen Fingern und schauderte, bevor er die Tür berührte.
Die Zelle war erleuchtet, wie es im Überwachungstrakt Vorschrift war. Normalerweise saß ein Wärter im Flur, der die fünf Todeskandidaten stündlich durch das Guckloch kontrollierte.
Die maßlose Angst, mit der der Sträfling das Schloss streichelte, verlieh der Gebärde beinahe etwas Feierliches.
Die Tür ging auf. Der Stuhl des Wärters war leer.
Geduckt lief der Mann los, wie im Taumel. Bis auf die rot geränderten grünlichen Augen war sein Gesicht von fahlem Weiß.
Dreimal kehrte er um, weil er sich im Weg geirrt hatte und auf verschlossene Türen gestoßen war.
Am Ende eines Flurs hörte er Stimmen: Wärter unterhielten sich laut in einer Wachstube und rauchten.
Endlich gelangte er in einen Hof, wo die Dunkelheit von Zeit zu Zeit durch den Lichtkegel einer Lampe durchbrochen wurde. Hundert Meter von ihm entfernt ging ein Wachtposten vor dem Tor auf und ab.
Anderswo hätte man hinter einem erleuchteten Fenster lange einen anderen Mann beobachten können, der sich mit einer Pfeife im Mund über einen Schreibtisch voller Papiere beugte.
Wie gern hätte Nummer 11 noch einmal die Nachricht gelesen, die vor drei Tagen auf dem Boden seines Essnapfs geklebt hatte, aber den Zettel hatte er, wie vom Absender empfohlen, zerkaut und geschluckt. Vor einer Stunde noch hatte er jedes Wort auswendig gewusst, nun konnte er sich an manche Stellen nicht mehr genau erinnern.
Am 15. Oktober um zwei Uhr morgens wird Deine Zellentür offen und der Wärter anderweitig beschäftigt sein. Wenn Du dem unten skizzierten Weg folgst …
Der Mann fuhr sich mit heißer Hand über die Stirn, starrte entsetzt auf die Lichtkegel und hätte fast aufgeschrien, als er Schritte hörte. Doch das war draußen, jenseits der Mauer.
Dort klapperten Absätze auf dem Pflaster, während freie Menschen miteinander sprachen.
»Dass die sich trauen, für einen Sitzplatz fünfzig Franc zu verlangen!«, sagte eine Frau.
»Die haben halt auch ihre Kosten«, erwiderte eine männliche Stimme.
Der Sträfling tastete sich die Mauer entlang, blieb stehen, weil er an einen Stein gestoßen war, lauschte, so bleich und absonderlich mit seinen endlos langen schlenkernden Armen, dass man ihn überall sonst für einen Betrunkenen gehalten hätte.
Die Gruppe stand mindestens fünfzig Meter entfernt von dem für sie unsichtbaren Gefangenen hinter einem Mauervorsprung an einer Tür mit der Aufschrift Verwaltung.
Kommissar Maigret vermied es, sich an den dunklen Backstein zu lehnen. Die Hände in den Manteltaschen, stand er fest und reglos auf seinen kräftigen Beinen, sodass er wie eine unbelebte Masse wirkte.
Nur das Knistern seiner Pfeife war in regelmäßigen Abständen zu hören. Man konnte die Unruhe in seinem Blick erraten, die sich nicht ganz vertreiben ließ.
Zehn Mal hatte er Coméliau, den es nicht an seinem Platz hielt, wohl schon die Hand auf die Schulter gelegt.
Der Untersuchungsrichter war um ein Uhr von einem Empfang gekommen, in Abendkleidung, den dünnen Schnurrbart sorgfältig gezwirbelt, mit lebhafterer Gesichtsfarbe als gewöhnlich.
Daneben stand mit grimmiger Miene und hochgeschlagenem Jackenkragen Gassier, der Gefängnisdirektor, und tat so, als ginge ihn das alles nichts an.
Es war sehr kalt. Der Wachtposten vor dem Tor stampfte mit den Füßen, und der Atem der Männer stieg in feinen Dunstsäulen auf.
Der Sträfling war nicht zu sehen, weil er die hellen Stellen mied. Aber sosehr er sich auch bemühte, kein Geräusch zu machen, konnte man ihn doch hin und her gehen hören und ihn quasi auf Schritt und Tritt verfolgen.
Nach zehn Minuten trat der Richter an Maigret heran und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch der Kommissar legte ihm so nachdrücklich die Hand auf die Schulter, dass er seufzend weiterschwieg und mechanisch nach einer Zigarette griff, die ihm sogleich aus der Hand genommen wurde.
Den drei Beobachtern war bewusst, dass der Gefangene den Weg nicht fand und jeden Moment einem Wachtposten in die Arme zu laufen drohte.
Und sie waren zur Untätigkeit verdammt! Sie konnten ihn ja schlecht zu der Stelle führen, wo unten ein Kleiderpaket auf ihn wartete und von oben ein Seil mit Knoten herabhing.
Ab und zu fuhr draußen ein Auto vorbei. Ab und zu hörte man Leute reden, deren Stimmen im Gefängnishof merkwürdig hallten.
Die drei Männer konnten sich nur durch Blicke verständigen. Die des Direktors waren bissig, spöttisch, grimmig. Richter Coméliau spürte seine Angst und Nervosität immer größer werden.
Maigret zwang sich zu Ruhe und Zuversicht. Hätte er allerdings im Licht gestanden, hätte man den Schweiß auf seiner Stirn schimmern sehen.
Als es halb drei schlug, tappte der Sträfling immer noch umher. Doch eine Sekunde später traf es die drei Beobachter wie ein Schlag.
Sie hatten den Seufzer nicht gehört. Nur erahnt. Und nun ahnten, spürten sie auch die fieberhafte Hast des Mannes, der endlich über das Kleiderpaket gestolpert war und das Seil entdeckt hatte.
An den stetigen Schritten des Wachtpostens konnten sie das Verstreichen der Zeit ermessen. Leise wagte der Richter eine Frage:
»Und Sie sind sicher, dass …«
Maigrets Blick ließ ihn verstummen. Das Seil bewegte sich. Ein heller Fleck erschien auf der Mauer: das Gesicht des Häftlings Nummer 11, der sich am Seil emporhangelte.
Wie lang das dauerte! Zehnmal, zwanzigmal länger als vorgesehen. Und als er endlich oben war, rührte er sich nicht mehr. Es sah aus, als ob er aufgeben wollte.