Diejenigen nun, die Selbstliebe in diesem Sinne hegen, verurteilt man mit Recht; es läßt sich aber nicht verkennen, daß die Masse von Selbstliebe bei denjenigen zu sprechen gewohnt ist, die in diesem Sinne für sich bedacht sind. Wenn einer immer nur darum bemüht ist, selbst in seinem Tun sich vor allem an das Gerechte oder an das Maßvolle oder was irgendsonst Ausfluß sittlicher Gesinnung ist zu halten und überhaupt immer alles Edle und Hohe sich anzueignen, so wird einem solchen Mann niemand Selbstliebe zuschreiben oder sie ihm zum Vorwurf machen. Und doch darf einem solchen Mann Selbstliebe erst recht nachgesagt werden. Er nimmt für sich das Herrlichste, die Güter die es im höchsten Sinne sind, in Anspruch; er willfahrt dem was an ihm selbst sein eigentlichstes Wesen ist, und diesem leistet er in allen Stücken Gehorsam.
Was nun vom Staate wie von jedem anderen zusammengesetzten Gebilde gilt, nämlich daß das was an ihm den wesentlichsten Kern ausmacht, ihn im vollsten Sinne darstellt, das gilt ebenso auch vom einzelnen Menschen. Und so liebt denn der am eigentlichsten sich selbst, der dieses sein Wesen liebt und ihm zu Gefallen lebt. Man schreibt jemandem Selbstbeherrschung und Mangel an Herrschaft über sich zu, je nachdem die Vernunft in ihm die Herrschaft hat oder nicht, weil man meint, daß das eigentliche Selbst eines jeden eben die Vernunft ist. Als eigene, frei vollbrachte Tat setzt man jedem nur das in Rechnung, was er am meisten mit vernünftiger Überlegung vollbracht hat. Daß also dies eines jeden eigentliches Selbst oder es doch mehr ist als alles andere, läßt sich nicht verkennen, und ebensowenig daß ein Mensch von sittlichen Grundsätzen darin die reichste Befriedigung findet.
Darum ist er gerade derjenige, bei dem die Selbstliebe am stärksten ausgebildet ist; nur ist sie es in einer anderen Bedeutung als die die man verurteilt. Sie unterscheidet sich von dieser gerade so weit, wie das Leben nach der Vernunft sich von dem Leben nach Gefühlserregungen, und das Streben nach sittlichen Zielen von dem Streben nach scheinbarem Vorteil unterscheidet. Menschen, die in hervorragendem Maße mit allem Eifer auf sittliche Betätigung bedacht sind, gewinnen sich bei allen Sympathie und Beifall. Würden alle Menschen wetteifernd um sittliche Ziele ringen und zu edler Tat die Kräfte regen, so würde im Gemeinwesen alles stehen wie es soll und jeder einzelne für seine Person die höchsten Güter besitzen, wenn nämlich sittliche Vorzüge ein solches Gut darstellen. Ein edelgesinnter Mensch ist demnach zur Selbstliebe geradezu verpflichtet; denn von seiner sittlichen Betätigung wird er selbst den Segen genießen, und die anderen werden sich ihrer fördernden Wirkung erfreuen. Bei einem Menschen von schlechtem Charakter dagegen ist sie allerdings übel angebracht; denn ein solcher wird, indem er seinen niederen Antrieben folgt, sich selbst und seinen Nächsten nur schädigen.
Bei dem schlechten Menschen klafft also zwischen dem was er tun sollte und dem was er wirklich tut ein Widerspruch; der gute Mensch dagegen tut das was er tun soll. Denn die Vernunft entscheidet sich jedesmal für das was ihr das Entsprechendste ist, und ein guter Mensch gehorcht der Vernunft. Gewiß also tut ein pflichtgetreuer Mensch auch für seine Freunde und für sein Vaterland vieles; ja, er setzt wenn es nötig ist für sie sein Leben ein. Er gibt Geld und Ehrenstellen, überhaupt alle vielumworbenen Güter dahin, um sich dafür das was edel und herrlich ist zu gewinnen; er will lieber kurze Zeit die höchste Seligkeit genießen als lange Zeitmäßigen Genuß erlangen und lieber ein Jahr hindurch ein Leben voll edlen Gehaltes als viele Jahre hindurch ein Leben führen wie es sich eben trifft; lieber eine edle und bedeutsame Tat vollbringen als eine Menge von unbedeutenden Beschäftigungen treiben. Dies alles trifft bei dem zu, der sein Leben hingibt; er wählt sich damit ein bedeutendes und ein edles Los. Solche Menschen bringen denn auch wohl Geldopfer, damit ihre Freunde dadurch größeren Vorteil erlangen. Dann fällt dem Freunde der Vorteil, ihnen der Ruhm der edlen Tat zu; es ist also das höhere Gut, was sie für sich gewinnen. In bezug auf Ehrenstellen und Ämter ist das Verhalten dasselbe. Er wird alles dergleichen gern dem Freunde überlassen; denn dann fällt ihm zu was edel und preiswürdig ist. So wird er denn mit Recht als ein Mann von sittlicher Gesinnung geachtet, da er die edle Tat höher stellt als alles andere. Es kann selbst geschehen, daß er große Dinge, die zu vollbringen sind, dem Freunde überläßt und es für ihn ein edlerer Entschluß ist, dem Freunde dazu den Anlaß zu gewähren, als sie selbst zu vollbringen. So nimmt denn offenbar in allem was des Beifalls würdig ist der Mann von sittlicher Gesinnung den größeren Anteil von dem was edel und wertvoll ist für sich in Anspruch. In diesem Sinne also, wie wir sie geschildert haben, ist Selbstliebe Pflicht; allerdings eine solche wie die große Menge sie übt, die sollte nicht sein.
6. Das Bedürfnis nach Freunden
b) Die rechte Zahl der Freunde
c) Freunde im Glück und im Unglück
d) Die Freundschaft als Lebensgemeinschaft
a) Im Glück
Gestritten wird ferner auch darüber, ob ein Mensch in glücklichen Verhältnissen Freunde braucht oder nicht. Es heißt, die Menschen in glücklicher Lage genügten sich selbst und bedürften der Freunde nicht: sie hätten ja was gut ist, erfreuten sich dessen in ausreichendem Maße und hätten also kein Bedürfnis nach etwas Weiterem; der Freund als ein anderes Selbst verschaffe einem ja nur, was man sich selbst zu verschaffen nicht imstande sei. Daher das Wort:
Wenn dir die Gottheit Glück verliehn, was braucht's des Freunds?
Und doch erscheint es ungereimt, daß man, wenn man dem Glücklichen alle Güter zuerteilt, ihm Freunde nicht zuweist, die doch von allen äußeren Gütern für das höchste gelten. Nun ist es ja für den Freund bezeichnender, daß er Gutes erweise, als daß er es entgegennehme: anderen Gutes zu erweisen gehört zum guten Menschen und zur guten Gesinnung, und Freunden Gutes anzutun ist schöner als Fremden. Aus allen diesen Gründen wird ein wohlgesinnter Mensch solcher bedürfen, an denen er Guttat üben kann. Darum ist es eine Frage, ob man im Glück oder ob man im Unglück das dringendere Bedürfnis nach Freunden hat. Bedarf doch wer im Unglück ist solcher, die sich seiner annahmen und wer im Glück ist solcher, an denen er Gutes tun kann. Andererseits ist es doch auch wohl ungereimt, aus dem Glücklichen einen Vereinsamten zu machen; denn kein Mensch würde sich etwas aus dem Besitz aller nur möglichen Güter machen, wenn er sie für sich allein genießen sollte. Der Mensch ist ein für die Gemeinschaft mit andern bestimmtes Wesen und zum Zusammenleben mit andern geschaffen; das ist bei dem Glücklichen erst recht der Fall. Er hat die Güter die ihrer Natur nach Güter sind, und offenbar ist ein Zusammenleben mit Freunden und mit guten Menschen wertvoller als mit Fremden oder mit dem ersten besten. Mithin, wer im Glücke ist der bedarf der Freunde.
Was will denn nun die erst genannte Ansicht und worin besteht ihre Berechtigung? Etwa darin, daß der große Haufe meint, unser Freund sei wer uns Nutzen bringt? Dieser Art von Freunden allerdings wird wer im Glücke ist nicht