Kim lachte. »Ja, aber das ist nichts gegen sein Gesicht vorher hinter dem Lenkrad. Das hast du nicht gesehen von deiner Position aus. Es war nicht blöd – das war animalisch!«
Als sie daran zurückdachte, an seine unkontrollierte Miene, die unbewusste Hervorkehrung tief im Inneren angestauten Hasses, an seine trommelnde Faust auf der Hupe – auf einmal empfand sie ein kurzes Frösteln, das über ihre Haut huschte wie ein scheues Tier. Es lief über ihre Arme und bewegte die feinsten Haare darauf. Ein ungewohntes Gefühl … Kim genoss diesen seltsamen kleinen Schauder. Er war prickelnd, berührend … »Ich wünschte, ich hätte das gefilmt. Echt, er sah aus wie ein Biest. Das hatte wirklich was! Ich würde es mir wieder und wieder ansehen.«
Die Härchen auf ihren Armen legten sich langsam wieder an die Haut. »So was sollten wir filmen und nicht diese kleinen bedauernswerten Kasperfiguren, die zufällig über ihre eigenen Beine stolpern.«
»Warum machen wir nicht so einen Wettbewerb, wer die krassesten Gesichtsausdrücke in der Kamera speichert?«, schlug Benni vor.
Kim ging das nicht weit genug. »Es geht nicht einfach um Gesichtsausdrücke, so was haben wir doch schon zur Genüge; blöde Gesichter zu blöden Situationen in ebenso blöden Filmen oder Fotos. Es geht um Gefühle! Wir sammeln Gefühle.«
»Gefühle sammeln?«
»Ja, die Gesichtsausdrücke reichen nicht. Die Gesamtkomposition muss stimmen. Die Menschen müssen ganz in ihren Gefühlen aufgehen, sie müssen ihre Empfindungen herausschreien. Dann ist das mehr, als nur ein blödes Gesicht. Wir brauchen explodierende Emotionen voller Leidenschaft: Freude, Trauer, Hass, Entsetzen, Verzweiflung … Angst …«
»Angst? … das wär was für mich. Ich glaube, ich sammle Angst.«
Schnaubend stieß Kim Luft aus ihrer Nase. »Du wieder! Also, ich dann auch … nein, besser Hass oder Entsetzen. Verzweiflung wäre auch nicht schlecht. Auf jeden Fall starke Gefühle, die mir die Haut strubbelig machen. Im Ernst, warum machen wir es nicht wie beim Geocaching? Nur anstatt idiotischer Pseudo-Schätze wie Plastikdosen, Münzen und sonstigen Quatsch, sammeln wir echte Gefühle. Nennen wir es … Emotion Caching!«
Benni überlegte kurz. »Emotion Caching? Klingt gut. Wir könnten sogar Koordinaten dazu austauschen. Das kann man ja fast eins zu eins umsetzen.«
»Die Aufenthaltskoordinaten unserer auserwählten Personen …«
»Ja, wer von einem Typen weiß, der einem Gefühlsausbruch nahe ist, gibt die Koordinaten durch.«
Kim schwelgte in Szenarien einer vielversprechenden, greifbaren Zukunft. »Und wer von uns in der Nähe ist, versucht das Ganze auf Video oder Foto zu bannen. Nur dann müsste man diese Menschen vorher auch sehr gut und lange beobachten. Reine Zufallstreffer wirklich aufregender Emotionsentladungen dürften ausgesprochen selten sein.«
»Machen wir es doch so wie mit Haifisch und helfen ein bisschen nach«, legte Benni mit hässlich verschlagener Stimme nahe. »Pflanzen wir den Leuten die gewünschten Gefühle doch einfach ein, anstatt auf einen Zufall zu hoffen.«
Kim stutzte. Gefühle einpflanzen. Bennis ungewöhnliche Wortfindung übertraf ihre eigene Vorstellung von Emotion Caching um einen tückischen weiteren Schritt. Er hatte recht, sie hatte Haifisch sehr lange provozieren müssen, bis er seinen Hass so deutlich zeigte. »Wahrscheinlich muss Einiges zusammenkommen, bevor jemand so enthemmt reagiert, wie wir es gerne hätten«, überlegte sie laut. »Wenn jemand Hass empfinden soll zum Beispiel, dann reicht wohl kaum ein einziger Vorfall aus, ihn derart wütend zu machen, wie wir es bei Haifisch erlebt haben.«
»Ich sagte ja einpflanzen. Das bedeutet, dass man es sät, um es dann langsam wachsen zu lassen. Und dann ernten wir es.«
»Benni, wenn ich darüber nachdenke, klingt das irgendwie krank … und auch ganz furchtbar spannend. Wir sollten mit den anderen darüber reden. Aber zuerst mache ich mir Gedanken, was ich mit Robert anstelle.«
»Lass das mal meine Sorge sein.«
»Nee, lass mal – Robert gehört mir, genauso wie Haifisch. Aber wenn du eine Idee dazu hast, klär mich auf. Umsetzen kann ich es dann schon selbst. Er soll auch besser nicht merken, dass da was von mir initiiert wurde. Auf den Stress mit meiner Mutter hätte ich keinen Bock, so abgehärtet ich auch bin. Meine Mutter ist ein wirklich harter Brocken … Ach ja, und Benni …«, sie verdüsterte ihre Stimme, »… wehe, ich finde das Video mit meinem Gesicht in der Öffentlichkeit! So wahr ich hier sitze – dann bringe ich dich um!«
»Uaahhh, da wird mir aber mulmig! Vor so was scheinst du aber richtig Angst zu haben.«
»Angst? Nee, ich kenne keine Angst, glaub mir. Wer mir Angst machen will, muss sich schon mehr einfallen lassen. Ich glaube, das schafft keiner.«
»Glaubst du? Na ja …«
»Treffen wir uns morgen bei Mehmet und besprechen Emotion Caching mit den anderen. Es sei denn, du willst Lena nicht mit dabei haben.«
»Lena?« Benni zögerte kurz. »Ach, lass sie mal mitmachen. Sie ist niedlich und bestimmt ist sie uns nützlich.«
»Ich meine nur, sie ist schon verdächtig lange an deiner Seite. Wenn du sie übermorgen schon wieder zum Teufel jagst, sollte sie nicht morgen in unsere geheimsten Pläne eingeweiht werden. Ich habe keine Lust, von ihr verpfiffen zu werden. Die Filmerei hat uns oft genug Ärger eingebracht.«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Lena hab ich genauso im Griff wie jeden anderen.«
Kim horchte auf. »Hey, aber mich hast du nicht im Griff. Das schminke dir mal ab. Nico vielleicht und deine dauernd wechselnden Freundinnen, aber nicht mich.«
»Schon klar …«
»Und wie klar!«
Nach dem Gespräch durchstöberte Kim ihre Filme und Fotos in der Cloud, die sich seit den letzten zwei, drei Jahren in ihrem passwortgeschützten Dateiordner anhäuften. Sie hatte noch einen weiteren sehr privaten Ordner. Darauf sammelte sie nur für sich Handyfotos ihr völlig fremder Menschen, deren Gesichter sie derart fasziniert hatten, dass sie dem Verlangen, sie für sich zu verewigen, nicht hatte widerstehen können. Es war so ziemlich alles dabei, was sie an sich selbst vermisste: Strahlendes Lachen, Ergriffenheit, eine lachende Oma mit ihrem Enkelkind, ein weinender Mann vor seinem vom Blitz zerstörten Haus aus ihrer Nachbarschaft, Bilder mit Momentaufnahmen echten Lebens, die sie jetzt nicht zum ersten Mal mit einer Mischung aus Unbehagen und Sehnsucht betrachtete. Sie war eine gute Fotografin, fand sie. Vielleicht wäre das ein Beruf für sie. Aber wer brauchte heute noch Fotografen?
Da – das Foto von dem völlig niedergeschmetterten Mädchen, deren Pferd auf der Weide an einer Kolik gestorben war. Es weinte sich die Seele aus dem Leib.
Warum konnte sie selbst nie einfach mal losheulen, wie die Menschen auf ihren Fotos? Nicht einmal auf der Beerdigung ihres Vaters soll sie geheult haben und da war sie erst vier Jahre alt gewesen.
Kim fügte ein Standbild von Haifisch aus Bennis Film zu den Fotos in den Ordner ein. Es zeigte ihn völlig außer sich vor seinem Golf stehend und vor Kims lächelnd triumphierender Miene. ›Wut‹ schrieb sie unter die Bilddatei, als sie diese abspeicherte. Oder sollte sie ›Hass‹ schreiben? Hass schien ihr angemessener. Oh ja, er hatte ihr den Tod gewünscht, einen blutigen Tod, wie den von einem Stück Vieh, um das sich niemand scherte. Er wünschte ihr quasi, ein Fall für die Tierkörperbeseitigung zu werden. Sehr aussagekräftig. Sein violettes Gesicht war nahezu der personifizierte Ausbruch ungehemmten Hasses.
Was hätte sie dafür gegeben, wenn ihre Mutter sie einmal so angeschrien und ihr alles erdenklich Teuflische an den Hals gewünscht hätte, wie dieser Mann auf dem Foto. Was Kim sich auch abrang, ihre Mutter Sofie blieb ein Eisberg, an dem Kims aufkeimende Gefühle langsam, aber unaufhaltsam aufrissen und schließlich untergingen. Kim war das auslaufende Schiff und aus Sofies Gesicht wehten ihr nüchterne, kühl berechnete Worte wie ein arktischer Wind entgegen. Wo aber hatte ihre