Gustave Courbet und der Blick der Verzweifelten. Bernd Schuchter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Schuchter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992003006
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Ding hat seine Freiheit, seinen Individualismus. Deswegen Schluss mit dem ewigen Machtstreben der alten Eliten, deren Symbol diese ästhetisch wie moralisch scheußlichen Säulen und Bronzen sind, Schluss mit diesen Bonapartisten und ein Lob auf die Kommunarden, die mittlerweile die Weisheit von Proudhon auf den Lippen führen. Eigentum ist Diebstahl. Her mit der Kommune, eine Gemeinschaft Gleicher unter Gleichen, das ist die Utopie. Es lebe die Anarchie, die Herrschaftslosigkeit, denn zu lange sind wir nur beherrscht worden. Jetzt soll niemand mehr herrschen.

      Bei diesen Gedanken musste der Mann verächtlich ausspucken und verfluchte seine trockene Kehle, eine Folge seiner immensurablen Trunksucht, die ihm nachgesagt wurde. Vielleicht kam das staubige Gefühl am Gaumen auch von seiner Vorliebe für den Tabakkonsum, das war möglich. Sein leicht aufgedunsener und untersetzter Körper, die Ringe unter den übernächtigen Augen sprachen eher für Ersteres. Er kramte bedächtig in seinen Taschen und stopfte sich die für ihn so markante Pfeife, mit der er sich schon in seinem bekannten Selbstbildnis dargestellt hatte. Damals hatte er sich beim Haschischrauchen porträtiert, was keinen geringen Skandal ausgelöst hatte. Aber als Maler wusste er sich zu inszenieren, denn je mehr Aufmerksamkeit man in der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen vermochte, umso mehr würde man als Künstler wahrgenommen. Auch die Preise seiner Bilder würden im Gleichschritt mit seinem Ruhm steigen. Das hatte er sich von einem seiner Freunde aus der Brasserie Andler, dem Tempel des Realismus, abschauen können, der ein Meister der Selbstinszenierung war: dem Dichter Charles Baudelaire. Aber auch die anderen Bekannten aus dem Andler, wie der Dichterfreund Jules Champfleury oder der Sozialtheoretiker Pierre-Joseph Proudhon, huldigten dem Realismus wie der mittlerweile berühmte, von zahlreichen Skandalen umwitterte Mann mittleren Alters, der sich an diesem regnerischen Vormittag 1871 bedächtig seine Pfeife stopfte. Sein Name war Jean Désiré Gustave Courbet und sein Ruhm reichte über die Barrikaden des Place Vendôme weit hinaus. Courbet ist an diesem Vormittag des 16. Mai 1871 nicht ganz 52 Jahre alt und steht auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Die Kommune hat ihn zum Beauftragten für Kunstangelegenheiten ernannt und mit dem ihm eigenen Eifer hat er die Demontage der Colonne Vendôme vorangetrieben, diesem Symbol des Machtstrebens der Bonapartisten als Vertreter des verhassten Empire. Heute nun ist es soweit, nur ein wenig Stroh hier, ein wenig Mist da, dann kann sich der Petit Caporal auf dem Untergrund ausruhen, der ihm eigentlich gebühren würde, auf dem Misthaufen der Geschichte.

      Plötzlich flattern die Vögel auf und Courbet folgt gedankenverloren ihrem Formationsflug über den Platz. Er bewundert ihre synchronen Bewegungen, ohne sie ganz zu verstehen. Die Stare nutzen den gemeinsamen Flug etwa, um weit übermächtigere Beutegreifer zu verwirren und abzuschütteln. Courbet weiß auch nicht, dass die Betriebsamkeit der Vögel ihrem unersättlichen Hunger geschuldet ist, denn ihr Atmungssystem, ihre Herz-Lungen-Luftsack-Maschine, durch die die Luft anders als bei den Säugetieren hindurchströmt, ermöglicht ihnen erst zu fliegen. Die Atmung wiederum ist Voraussetzung ihres beschleunigten Stoffwechsels und lässt das Herz etwa bei Spatzen bis zu 800 Mal pro Minute schlagen und die Körpertemperatur auf 42 Grad steigen, dicht an die Todesgrenze, daher auch ihr ständiger Hunger nach Nahrung. Alle Vögel haben Federn und zahnlose Schnäbel, denkt Courbet. Sie können nicht beißen, sondern nur reißen; nicht kauen, nur schlucken. Den Rest übernehmen kleine Steinchen, die anstelle der Zähne die Nahrung mithilfe der Magenwände zerkleinern.

      Nun erkennt Courbet, dass er sich geirrt hat. Es sind Tauben, die den Place Vendôme umschwirren, ihre runden Bäuche machen sie zu eleganten Fliegern. Ihrem üblen Ruf als Ratten der Lüfte kann Courbet nicht viel abgewinnen. Nach einer Weile lassen sich die Vögel wieder auf den Simsen der umliegenden Häuser nieder und harren der Dinge. Auch die Kommunarden sind nun bereit. Ein Gerüst wird hastig errichtet, mehrere grobe Seile und eine Winde herbeigeschafft, der Platz füllt sich langsam mit Schaulustigen. Es lockert auf und die Sonne kommt hinter den Wolken hervor. Courbet beginnt zu schwitzen und öffnet seinen halblangen Mantel. In der Ferne hört man das Läuten einer Kirchenglocke. Totengeläut.

      So eine gewaltige Demontage muss gut geplant werden. Courbet hatte vor allem aus ästhetischen Gründen den Abriss der Säule gefordert, schließlich war sie ihm in den letzten Jahren ein täglicher Dorn im Auge gewesen, er wohnte ganz in der Nähe des Place Vendôme. Stolz steht die Colonne auf einem mächtigen Sockel. Die Säule selbst besteht aus 98 Steintrommeln, die mit einem Bronzerelief nach Zeichnungen von Pierre Bergeret verkleidet sind und von verschiedenen Künstlern ausgeführt wurden. Gezeigt werden Schlachtenszenen, Triumphe Napoleons, ganz in der Tradition Trajans, der für seine Siegessäule Szenen aus seinem erfolgreichen Feldzug gegen die Daker verewigen ließ. In genau diese Tradition wollte sich auch Napoleon Bonaparte stellen, denn immer ist das Spiel um die Macht auch ein Ringen um die Vorherrschaft, um Symbole und Bilder, die diese Macht repräsentieren. Nur so ist zu verstehen, dass Napoleon so viele Serien an Münzen mit seinem Konterfei nach antikem Vorbild, im Profil und ganz nach der Art der römischen Cäsaren, in Umlauf gebracht hat. Er, der legitime Nachfahre Trajans, wird so selbst mythologisch überhöht und begründet seine Allmachtsansprüche, die ein einfacher General des Direktoriums, ein späterer Konsul, ansonsten niemals stellen dürfte. Dafür folgten ihm die Massen, dafür liebten ihn die Franzosen, denn Napoleon war es, der diesem in den Revolutionswirren zerschundenen Land wieder eine Ahnung von Größe und Ehre vermitteln konnte, die einer ganzen Nation die Brust vor Stolz nur so schwellen ließ. Courbet wendet sich von diesem Gedanken angewidert ab. Keine Herrschaft, endlich keine Herrschaft mehr, egal von wem.

      Die Szenen auf dem Relief der Colonne huldigen den militärischen Erfolgen des kleinen Korsen im österreichisch-russischen Krieg von 1805, die Bronzereliefs wurden aus 133 erbeuteten Kanonen aus der Schlacht von Austerlitz gegossen, Napoleons wohl größtem Sieg als Feldherr der französischen Revolutionstruppen, als der Korse die Armeen des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren mithilfe der Sonne von Austerlitz vernichtend schlug. Das Reliefband, das sich schneckenartig emporwindet, besteht aus 425 bronzenen Platten und hat eine Länge von schier unglaublichen 280 Metern. Vorerst wird sie unter den argwöhnischen Augen Courbets nach und nach demontiert und an einen sicheren Ort verbracht werden. Später konnte immer noch entschieden werden, wie mit den Reliefs zu verfahren wäre.

      Nun wird die Säule in mehrere Stücke zersägt, eine anstrengende, langwierige Arbeit, die sich eine Zeitlang hinzog. Unterdessen füllt sich der Place Vendôme mit noch mehr Schaulustigen, die sich unter Johlen und Schreien auf das große Ereignis einzustimmen versuchen. Weinflaschen und Schnapsgläser werden herumgereicht, Wäscherinnen machen schmutzige Witze auf Kosten der Bonapartisten im Speziellen und der Monarchisten im Allgemeinen. Straßenjungen in zerrissenen Kitteln halten Maulaffen feil und sind sich dennoch bewusst, einem bedeutenden Moment beizuwohnen. Handwerker und Arbeiter in der zerschlissenen Uniform der Nationalgardisten rauchen und spucken abwechselnd aus, das alles mit einer geradezu gravitätischen Gleichmütigkeit. Dann geht ein Raunen durch die Menge; die langen, groben Seile werden an der Säule angelegt. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis dieses verdammte Symbol der reaktionären Herrschaft im Staub der Geschichte liegt. Courbet sieht kurz auf und wechselt ein paar Worte mit einem kräftigen, jungen Mann, dem der Schweiß von den Schläfen rinnt. Er ist es gewesen, der als Erster bis ganz nach oben auf die Plattform geklettert ist und das erste Sägen der Blöcke übernommen hat. Courbet bekommt ein verständnisvolles Nicken auf seine Frage, die im Johlen der Menge untergeht. Im Inneren der Säule führt eine Treppe bis ganz nach oben, was die Arbeiten ein wenig einfacher und ein bisschen weniger gefährlich macht. Noch ist keiner der eifrigen Kommunarden zu Schaden gekommen oder abgestürzt. Das wäre auch zu viel der Ehre für den vertriebenen Kaiser gewesen, dass noch in seiner Abwesenheit die Knechte seiner Herrschaft für ihn hätten leiden müssen.

      Courbet stopft sich seine Pfeife und setzt sie in Brand. Auch hält er eine Weinflasche griffbereit und nimmt von Zeit zu Zeit einen kräftigen Schluck. Langsam bessert sich die kehlige Dürre auf seinem Gaumen, langsam kommt wieder Leben in seine roten Wangen an diesem unseligen wie bedeutungsvollen Tag, den er schon so lange herbeifantasiert hat. Nun aber ist alles real und die Colonne Vendôme ein Ding wie jedes andere, das der Maler wie jeder Mensch nach seiner Wahrnehmung als Individuum empfinden kann. Wissen um zu können, das war mein Streben, denkt Courbet. Imstande zu sein, die Sitten, die Gedanken und das Antlitz meiner Zeit so zu übertragen, wie ich es empfinde, nicht nur