Bernd Schuchter
Gustave
Courbet
und der Blick der Verzweifelten
Die Arbeit an diesem Buch wurde mit einem Projektstipendium für Literatur des Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport unterstützt.
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1. Auflage 2021
© 2021 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
Coverbild: Selbstporträt von Gustave Courbet/Gemeinfrei
Illustration Vor- und Nachsatz: © L’illustration journal universel n° 1474.
Paris sous la Commune : démolition de la colonne Vendôme, le premier tour de cabestan 1871
ISBN 978-3-99200-299-3
eISBN 978-3-99200-300-6
Für meinen Vater (1942–2020)
„Die wahre Freiheit des Menschen besteht darin, wider besseres Wissen das Falsche zu tun.“
Anonymus
Inhalt
I
Trübes Licht scheint matt auf den Place Vendôme, zäher feiner Regen macht eine traurige Stimmung. Auf den Dächern der umliegenden, prachtvollen Häuser sitzen die Amseln in Grüppchen und mummen sich in ihr Gefieder. Nur manchmal plustert sich ein Männchen in einer plötzlichen Aufwallung von Gefühlen auf, von Revierkämpfen getrieben, um einen vermeintlichen Rivalen ein paar Meter weiterzuscheuchen. Dann ist alles wieder still. Der zähe Regen schluckt auch die Natur. Es ist ein Innehalten, ein Zögern, ehe die Welt sich wieder weiterdrehen würde. Noch schläft dieser Morgen und mit ihm die merle noir.
Zu ihren Füßen und begleitet vom Blinzeln der Gleichgültigen holpern nun ein paar Fuhrwerke heran, die Männer auf den Böcken ziehen ihre breitkrempigen Hüte ein wenig tiefer ins Gesicht. Sie umkurven die steinernen Barrikaden an der Ausfallstraße, die zum Platz führt. Es sind keine schnell errichteten, provisorischen Bollwerke wie noch in der großen Revolution von 1789, als die Handwerker und Tagelöhner, die Wäscherinnen und Gerber in großer Hast und ergriffen von ihrer eigenen revolutionären Erregung in großer Eile Stühle und Tische der angrenzenden Spelunken, Truhen, Zäune, Bänke und was auch immer sie greifen konnten, anhäuften, um in den folgenden Straßenkämpfen den berittenen Soldaten des Königs mit ihren Bajonetten und Säbeln nicht gänzlich hilflos ausgeliefert zu sein.
Nun, rund achtzig Jahre nach der wohl größten Umwälzung der jüngeren Geschichte, achten die Enkelsenkel der Revolutionäre auf mehr Sicherheit, sofern davon in Revolutionswirren je die Rede sein kann. Schon wieder muss sich der dritte Stand – die Armen und immer noch Besitzlosen, die Hungernden und Leidenden – gegen die Herrschaft der Besitzenden – den wiedererstarkten Adel ebenso wie den Klerus und das im Ancien Régime reüssierende Bürgertum – wehren, auf die Straßen gehen, Widerstand leisten. Die Barrikaden sind aus Stein, die Ziegel akkurat mehr als mannshoch geschlichtet. An den Rändern stehen künstliche Straßenbeleuchtungen, neumodische Laternen, die einen Häuserkampf wohl notfalls auch nachts erlauben würden. Davor stehen mehrere kleine Gewehrpyramiden griffbereit, denn wer weiß schon, wann der Feind vorhat, seinen Schlag zu führen. Auf einer Fotografie der Zeit ist das alles gut zu erkennen. Aufgenommen von einem erhöhten Standpunkt von einem der umliegenden Häuser aus erkennt man vereinzelt Menschen, die sich wohl kaum als Revolutionäre erkennen würden. Müde und zerlumpt sitzen oder stehen sie herum, ein Mann ist wegen der mangelnden Belichtung ohnehin nur verwaschen zu erkennen. Es ist nicht viel Betrieb an diesem Morgen oder Abend und der leichte, aber ausdauernde Regen mag sein Übriges dazu tun, die Szene ist seltsam still. Dabei wurde in den Minuten zuvor, vielleicht vor ein paar Stunden, hier auf dem Place Vendôme Geschichte geschrieben.
Alles begann mit ganz profanen Handgriffen, denn selbst die Weltgeschichte muss so organisiert werden, dass sie Sinn ergibt. Am frühen Morgen bis in den Vormittag hinein klappern die Fuhrwerke der Pferdedroschker und karren Stroh und Mist heran, mit denen der Platz um die Colonne ausgestreut wird. Man will die Pflastersteine nicht beschädigen, was der unregelmäßige Sturz des Bauwerks unweigerlich verursachen würde. Es gilt, behutsam und überlegt vorzugehen, auch wenn die Zeiten nicht danach sind. Die Kommune von Paris hält sich in diesen Tagen nicht mit Halbwahrheiten, nicht mit Zaudern auf. Die revolutionäre Raserei, die die Kommunarden in den Wirren des deutsch-französischen Krieges nach der Niederlage der französischen Truppen bei Sedan in Paris an die Macht gespült hat, ist noch nicht abgeebbt. Dabei ist diese Utopie einer gerechten Gesellschaft, wie die Kommunarden ihre vorläufige wie kurzweilige Herrschaft sehen, von allen Seiten bedroht. Rechts der Seine belagern deutsche Truppen die Stadt, links davon haben die verbliebenen französischen Regierungstruppen die ehemaligen preußischen Stellungen übernommen. Die Regierung selbst tagt in Versailles, außerhalb von Paris. Die Zeit vom 18. März bis zum 28. Mai 1871, als die blutige Maiwoche endgültig alle Hoffnungen auf die utopistische Umwälzung aller Verhältnisse im Sinne der Rechtlosen der Gesellschaft zunichte macht und in einem finalen Akt die letzten 147 Kommunarden an der Mur des Fédérés, der Mauer der Kommune, am Friedhof Père Lachaise erschossen werden, scheint wie ein letztes Aufflackern eines lang gehegten Traumes.
Der Traum von der Revolution wurde von den Mittellosen, den Abgehängten, den Armen und Benachteiligten dieses Jahrhunderts alle paar Jahre wieder und neu geträumt. Die Revolution aller Revolutionen, jene von 1789, aber auch das erfolgreichere Vorbild der amerikanischen Revolution, die immerhin zur ersten westlichen Demokratie geführt hat, tragen die Menschen jahrelang in ihren Herzen. Allen Repressionen, allem Mangel, aller restaurativen Kraft reaktionärer Kreise zum Trotz. Das nachnapoleonische Europa, das die alten Eliten nach 1815 nach den Plänen des österreichischen Kanzlers Fürst von Metternich errichtet haben, schien immer wieder einmal zu wanken. In Frankreich etwa 1830, als sich erstmals die Massen erhoben, bezaubernd in Szene gesetzt von Courbets Zeitgenossen Eugène Delacroix in seinem Gemälde Die Freiheit führt das Volk, das die barbusige Göttin mit der Tricolore zeigt. Das war in den Wirren von 1848 so, als das alte Europa in heftigen Barrikadenkämpfen unterzugehen