Weites Herz. Jean Vanier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Vanier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862567195
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auf und schrie mir zu: »Sie haben ein leichtes Leben gehabt! Als ich vier war, musste ich mit ansehen, wie meine Mutter vor meinen Augen vergewaltigt wurde! Als ich sieben war, verkaufte mich mein Vater zum Sex. Als ich dreizehn war, kamen die ›Männer in Blau‹ [Polizisten], um mich zu holen. Wenn irgendjemand in dieses Gefängnis hier kommt und von Liebe daherredet, schlage ich ihm seinen verdammten Schädel ein!«

      Ich hörte ihm zu, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Es war mir, als halte er mich gegen eine Wand gedrückt. Ich betete und dann erwiderte ich: »Es stimmt, was sie sagen. Ich habe ein leichtes Leben gehabt! Es stimmt, ich habe keine Ahnung von dem, was sie durchgemacht haben. Aber was ich weiß, ist, dass alles, was sie gesagt haben, wichtig ist. Die Leute außerhalb dieses Gefängnisses richten oft über sie, ohne zu wissen, was sie alles mitgemacht haben; sie kennen ihre Geschichte nicht, ihre Kindheitserfahrungen. Darf ich den Leuten draußen erzählen, was sie mir heute gesagt haben?« Er sagte: »Ja.«

      Dann fügte ich hinzu: »Sie haben uns etwas Wichtiges zu sagen. Aber eines Tages kommen sie aus dem Gefängnis heraus. Dann werden sie wahrscheinlich das Leben außerhalb des Gefängnisses wieder kennen lernen und sich einiges darüber anhören müssen.« Ich fragte ihn, ob ich wiederkommen dürfe, wenn ich wieder einmal in der Gegend sei. Und er gab zur Antwort: »Ja.«

      Als die Zeit zum Fragenstellen abgelaufen war, ging ich zu diesem Mann hin und schüttelte ihm die Hand. Ich fragte ihn, wie er heiße und woher er komme. Dann kam mir die Inspiration, ihn zu fragen, ob er verheiratet sei, und als er das bejahte, bat ich ihn, mir von seiner Frau zu erzählen.

      Der Mann, der derart gewalttätig gewesen war und so gewirkt hatte, als trage er einen ungeheuren Hass in sich, brach in Tränen aus. Er erzählte mir von seiner Frau, die in Montreal lebe, im Rollstuhl. Er habe sie schon zwei Jahre lang nicht mehr gesehen! Ich stand vor einem verwundeten, verletzlichen kleinen Kind, das weinte und förmlich nach Liebe und Zärtlichkeit schrie. Mein Vortrag über unser Bedürfnis nach Liebe, Gemeinschaft der Herzen und Güte – nach all dem, was ihm versagt geblieben war – hatte die tiefe Wunde in seinem Herzen wieder aufgerissen und er hatte das als unerträglich empfunden!

      Er lehrte mich etwas Wichtiges: Die Quelle unserer Tränen und Gewalttätigkeit liegt oft tief unterhalb aller Überheblichkeit und Selbstsucht. Tränen und Gewalttätigkeit können Wege sein, um uns vor dem Unerträglichen zu schützen, vor unserer eigenen Verwundbarkeit, vor unserer Angst vor dem Schmerz.

      Inmitten aller Gewalttätigkeit und Korruptheit der Welt lädt uns Gott heute ein, neue Stätten des Dazugehörens zu schaffen, Stätten des Teilens, des Friedens und der Güte; Stätten, an denen niemand sich zu verteidigen braucht; Stätten, an denen alle ausnahmslos geliebt und akzeptiert werden, mit all ihrer Gebrechlichkeit und allen ihren Fähigkeiten und Behinderungen. Das ist meine Vision für unsere Kirchen: dass sie zu Stätten des Dazugehörens werden, zu Stätten des Teilens.

      Wir sehen, dass zuweilen in unseren Kirchen, unseren christlichen Gemeinschaften genau die gleichen Machtkämpfe vor sich gehen, sich die gleiche Geschichte voller Spaltungen und Konflikte abspielt, weil unsere Kirchen genau wie unsere Gemeinschaften aus gebrochenen, verwundeten Menschen bestehen, aus genau solchen, wie du und ich es sind. Wir alle müssen unablässig immer wieder zur wesentlichen Botschaft Jesu zurückgeführt werden, zur Botschaft der Liebe, zur Botschaft der Seligpreisungen und der Demut. Wir müssen uns auch immer deutlicher dessen bewusst werden, wie viele verschiedene Wege es gibt, um Spaltung herbeizuführen, Wege, auf denen wir andere schlecht machen. Wir müssen unser Bedürfnis erkennen, zu beweisen, dass wir besser sind als andere.

      In den 1960er Jahren berief Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil ein. Das war für die katholische Kirche eine Zeit starker Erneuerung. Damals wurden die Kirchenführer daran erinnert, wie wichtig die Einfachheit ist: Jesus brachte seinen Jüngern nicht bei, wie sie »Kirchenfürsten« werden könnten, sondern wie sie einander die Füße waschen sollten.

      Während der Kolonisierung von Nord- und Südamerika beschäftigte einige Kolonisatoren die Frage, ob die dortigen Bewohner volle Menschen seien. Die Theologen diskutierten darüber, ob ein Sklave eine Seele habe. Es brauchte lange, bis die Kirche die Sklavenhaltung verurteilte. Zeigt das nicht deutlich, wie weit wir alle uns von der ursprünglichen Botschaft Jesu entfernt haben?

      Im kurz nach dem Tod Jesu geschriebenen Jakobusbrief wird uns erzählt, wie rasch sich die Gemeinschaft der Gläubigen verändert hatte: Die Leute hofierten diejenigen, die in feinen Kleidern daherkamen, während sie die schäbiger Gekleideten anwiesen, in der Versammlung weiter hinten zu bleiben … (vgl. Jakobus 2,4–9). Jakobus nahm daran wütend Anstoß. War Jesus nicht deshalb gestorben, weil er die Armen und Schwachen in den Mittelpunkt der Gemeinde gestellt hatte? Und jetzt schloss diese gleiche Gemeinde diese Menschen nach und nach immer mehr aus!

      In jeder neuen Epoche, in jeder neuen Situation der Armut und Unterdrückung beruft Gott Menschen auf neue Weise; Gottes Ruf ist immer neu und dennoch immer der gleiche. Wir sehen, wie damals, als die Wasser die Erde überfluteten und überschwemmten, Gott Noach herausrief,

      einen gerechten, untadeligen Mann unter seinen Zeitgenossen, der seinen Weg mit Gott ging.

      (Genesis 6,9)

      Je stärker wir uns der Gewalttätigkeit und Verderbtheit bewusst werden, die unsere Welt erfüllen, werden wir uns auch dessen bewusst, dass Gott uns beruft, diejenigen bei uns aufzunehmen, die schwach, angeschlagen und unterdrückt sind.

      Gott beruft uns, in der Liebe zu wachsen, jeder und jede mit ihrer ganz eigenen Berufung. Der Begriff »Berufung« wurde allzu oft nur auf Ordensleute oder geweihte Priester angewandt. Aber hat nicht jeder und jede von uns eine Berufung? Ergeht nicht an alle ein Ruf von Gott? Ist die Ehe denn keine richtige Berufung? Brauchen denn Eheleute keine eigene Gabe von Gott, um ihr Eheleben in seiner ganzen Fülle verwirklichen zu können? Ist das nicht der Grund, weshalb wir immer wieder des Segens bedürfen und die Sakramente empfangen müssen; weshalb wir uns öffentlich vor anderen zu unserem Engagement bekennen müssen? Haben denn Menschen mit Behinderungen nicht eine ganz eigene Berufung? Paulus erinnert uns sehr nachdrücklich an ihre Berufung:

      Seht doch auf eure Berufung! … Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zu beschämen; das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zu beschämen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt

      (1. Korinther 1,26–28)

      Es ist wichtig, um Berufungen zu beten, um alle Berufungen! Genau wie Gott Noach herausgerufen hat, so ruft Gott jede und jeden von uns auf unsere ganz eigene Art heraus, um eine »Arche« zu bauen, eine Gemeinschaft der Liebe, in der die Liebe den Hass besiegt, das Einbeziehen das Ausschließen besiegt, das Einssein die Spaltung überwindet. Lasst uns Jesus darum bitten, er möge uns helfen, dass wir alle in unseren Herzen seinen Ruf deutlich hören.

       Unseren Ruf erkennen

      Gott ruft zu allen Zeiten Männer und Frauen … auch in unserer Zeit. Wir sollten nicht meinen, dass wir zu unbedeutend, zu unwichtig oder unwürdig seien, als dass Gott uns berufen könnte. Gott wählt nicht die Starken, die Einflussreichsten und die Gebildetsten aus, sondern eher die Schwachen, die Niedrigen, die Bedürftigsten … Die gesamte Heilige Schrift hindurch bleibt Gottes Wahl immer die gleiche.

      Sehen Sie sich die Geschichte Davids an und die Art und Weise, wie er zum König auserwählt wurde (vgl. 1. Samuel 16,1–13). Der Herr schickte Samuel los, um aus den Söhnen Jesses den von Gott Auserwählten herauszufinden und zum König zu salben. Jesse stellte Samuel seine sieben Söhne vor, lauter große, starke, strahlende junge Männer. Der Herr aber hatte keinen von ihnen auserwählt, sondern er gab Samuel ein, Jesse zu fragen, ob er nicht noch weitere Söhne habe. Jesse gab zur Antwort:

      »Der Jüngste fehlt noch, aber der hütet gerade die Schafe.« … Samuel nahm das Horn mit dem Öl und salbte diesen mitten unter seinen Brüdern.

      Der Prophet Jeremia konnte nicht recht reden. Mose stotterte. Wenn man nicht reden oder nur stottern kann, tut man