Brunos Dankeschön. Uwe Heimowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uwe Heimowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567393
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der junge Mann drängte ihn und er war so erfüllt von der Predigt und dem Gebet, dass er sie ihm kein zweites Mal abschlagen mochte.

      Daheim legte Heinrich die Bibel auf sein Nachtschränkchen, neben den kleinen schwarzen Plastik-Reisewecker und hinter den überquellenden Aschenbecher. Sich selbst setzte er aufs Bett, drehte sich eine Zigarette und dachte über diesen ungewöhnlichen Abend nach. Sollte das wirklich, wie der Prediger gesagt hatte, ein neuer Anfang gewesen sein?

      Er drückte die Kippe in den Ascher und nahm die Bibel hervor. Beim Lukas-Evangelium sollte er anfangen, war ihm erklärt worden. Wo ist das? Heinrich blätterte in dem unbekannten Buch. Er fand das Inhaltsverzeichnis: „Inhalt des Alten Testamentes“, stand da, ein Lukas-Evangelium war nicht zu finden. Er blätterte eine Seite weiter: „Inhalt des Neuen Testamentes“, jetzt wurde er fündig. „Das Evangelium nach Lukas.“ Er suchte die betreffende Seitenzahl. Er schlug die Seite auf, doch das war nicht das Lukas-Evangelium. Er war verwirrt. Eine Weile blätterte er suchend in der Bibel herum. Plötzlich entdeckte er, dass hinten noch einmal neu gezählt wurde. Dort begann das gesuchte Evangelium auf der angegebenen Seite.

      Heinrich war überrascht. Es war mitten im Buch! Der junge Mann musste sich geirrt haben. Heinrich hatte zwar lange kein „richtiges“ Buch mehr angerührt, aber dass man Bücher am Anfang und nicht in der Mitte und schon gar nicht so weit hinten beginnt, das wusste er – schließlich ging es hier nicht um den Sportteil einer Zeitung oder das gehütete Geheimnis eines spannenden Thrillers, das er aus Neugierde gelegentlich vorweg las.

      „Also, wenn ich schon lese, dann richtig. Von vorne nach hinten“, sagte er entschlossen zu sich selbst.

      So begann er beim ersten Buch Mose.

      Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...

      Heinrich war fasziniert. Er empfand das gleiche Gefühl, das er während der Predigt gehabt hatte. Hier wurden seine Fragen beantwortet.

      Er hatte oft aus seinem kleinen Hinterhof-Fenster geschaut, die Spatzen auf der Regenrinne beobachtet und sich gefragt, wer sie wohl gemacht hat. Auch bei anderen Tieren und bei kleinen Kindern war es ihm so gegangen. Oder wenn er am Elbufer stand, die Schiffe beobachtete und sich überlegte, woher all diese Ozeanriesen kamen und wie es in den fernen Ländern ihrer Heimat aussehen mochte. Wer hatte all das gemacht? Woher stammten die Menschen und die Welt? Er hatte auf diese Fragen keine Antwort gefunden. Nun las er die Antwort in der Bibel: Gott hat sie gemacht.

      Heinrich las das nicht wie einen Krimi vor dem Zubettgehen oder wie die BILD-Zeitung in der Frühstückspause. Sondern er las es und wusste: Es stimmt. Es stimmt anders und tiefer, als die Nachrichten in der Tagesschau stimmen. Er hätte wieder nicht sagen können, warum, aber er las und er wusste:

      „Was ich hier lese, ist die Wahrheit. Die Wahrheit, nach der ich schon immer gesucht habe.“

      Lange dachte er über jeden gelesenen Abschnitt nach. Bis er müde wurde und über seiner Lektüre einschlief.

      Am nächsten Tag konnte er kaum erwarten, dass die Arbeit zu Ende ging. Er eilte nach Hause und steckte seine Nase sofort wieder in das begeisternde Bibelbuch. Sogar das Abendessen vergaß er. Am übernächsten Tag das Gleiche. Heinrich war Feuer und Flamme für das, was dort geschrieben stand und in sein Leben hinein sprach.

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      Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen.

      Plötzlich fühlte Heinrich Wasser um sich her. Überall. Von allen Seiten. Unentrinnbar war er von Wassermassen umgeben. Sie tröpfelten zuerst langsam durch das Dach und fluteten bald darauf durchs Giebelfenster in sein Zimmer hinein. Das Wasser stieg. Zentimeter um Zentimeter. Kroch an den Wänden und an Heinrich empor, schwappte über die Möbel, leckte an seinem Körper und füllte den Raum bald bis kurz unter die Decke. Panik ergriff ihn. Wie wild ruderte er mit den Armen. Doch die hilflosen Versuche waren umsonst. Er war dem Wasser ausgeliefert. Wehrlos.

      Heinrich konnte nicht schwimmen. Sein Atem versagte. Benommen tastete Heinrich nach seinem Bett. Es war trocken. Er griff an seine Jeans. Trocken. Das Sweatshirt – ebenfalls trocken. Kein Wasser weit und breit. Heinrich atmete auf. Es war also wieder dieser panikartige Angstanfall gewesen.

      Die Angst vor dem Ertrinken kannte Heinrich seit seiner Kindheit. Seit diesem Erlebnis im Sportunterricht. Diesem blödsinnig banalen Erlebnis – das ihn jedoch seither verfolgte. Ihn, den nichts sonst schreckte!

      Im Sommerhalbjahr hatte Schwimmen auf dem Stundenplan gestanden. Heinrich hatte Angst vor Wasser. Er war sowieso ein ängstliches Kind gewesen, Wasser schreckte ihn besonders. Seine Schwimmlehrerin hatte ihn, den kleinen furchtsamen Drittklässler, der sich zierte und nicht hineingehen mochte, ins Wasser des Freibades gestoßen. Zur Freude aller seiner Klassenkameraden, die den zappelnden und prustenden und, als er endlich den Rand des Bassins erreicht hatte, wasserspeienden Heinrich lauthals ausgelacht hatten. Es hatte keine Gefahr bestanden. Das Wasser war nur etwa brusthoch gewesen, die Lehrerin hatte bereit gestanden. Eine Banalität also – doch sie verfolgte ihn. Er schämte sich für seine Furcht, doch sie ließ ihn nicht los. Ein Psychologe in der Alkoholtherapie hatte ihm die Anfälle erklären wollen. Sie hätten mit dem Elternhaus zu tun, mit traumatischen Erfahrungen, eine Art Neurose, bla, bla, bla ... Heinrich hatte kein Wort verstanden. Geholfen hatte es auch nicht. Die Anfälle waren geblieben.

      Heinrich war noch atemlos von diesem letzten kurzen Anfall, das ganze Geschehen stand wieder quicklebendig vor ihm.

      „Diese Furie!“ Wut schäumte in Heinrich auf. „Diese verd...“

      Er unterbrach sich selbst, erschrocken über seinen Fluch.

      Leise sprach er vor sich hin:

      „Vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergebe.“

      Das war sein Gebet gewesen, am Donnerstagabend in der Coffeebar. Er hörte den Prediger die Bedeutung dieser Worte erklären, sah sich nicken und hörte sich Wort für Wort nachsprechen.

      „Wie auch ich vergebe.“

      Während er den Satz wiederholte, merkte Heinrich plötzlich, dass die Panik und die Wut ihm das friedliche, ausgeglichene Gefühl geraubt hatten, das seit zwei Tagen sein neuer innerer Begleiter – ein willkommener Freund – geworden war und ihn von der Spielhalle ferngehalten hatte. Statt dessen brodelte es jetzt unruhig in ihm. Er kannte dieses Brodeln nur zu gut. Zum ersten Mal seit vorgestern meldete es sich. Etwas musste geschehen. Sonst würde die Spielsucht ihn ...

      Er sah auf die Bibel in seiner Hand. Die Sintflutgeschichte hatte den Anfall ausgelöst. Bisher hatte die Bibel ihm Frieden geschenkt und die Suchtanfälle genommen. Wie konnte es sein, dass sie ihm jetzt den Frieden raubte? Er dachte eine Weile darüber nach. Plötzlich verstand Heinrich.

      Er warf die Bibel aufs Bett und sprang auf. Hastig lief er ein paar Schritte durch die Wohnung, griff nach einer Plastiktüte, die auf dem Hocker neben der Küchenzeile lag. Im Badezimmer stopfte er eilig einige Sachen hinein, im Schlafzimmer kamen ein paar andere dazu. Er suchte eine Weile im Schrank. T-Shirts und Hosen flogen im Bogen auf die Erde. Da lag das Gesuchte! Flugs verschwand es im Beutel. Mit der vollen Tüte in der Hand eilte er aus dem Haus.

      Eine halbe Stunde später stand Heinrich in seiner altmodischen halblangen Badehose – wie lange war es her, dass er sie getragen hatte? – am Rand des Schwimmbeckens. Das Wasser der kalten Dusche tropfte von seinen bleichen Beinen und Armen auf die geriffelten weißen Kacheln des Hallenbodens. Es perlte in großen Tropfen von Heinrichs langen blonden Haaren, rann in breiten Bächen über seine Schultern und den Rücken hinab. Gänsehaut überzog seinen Körper. Ihn fröstelte.

      Vor ihm spannte sich die blau-grün schimmernde Oberfläche des Wassers und spiegelte die symmetrischen Lampenreihen der Hallendecke, gelegentlich durchbrochen von den kleinen Wellen, die die Schwimmer aufwirbelten. Eine ältere Dame mit einer blümchenverzierten Badekappe drehte nah am Beckenrand ihre Runden. Als sie umkehrte, schlug sie Wellen und das Wasser schwappte über seine Füße. Erschreckt fuhr Heinrich zusammen. Etliche Hektoliter füllten das Becken, eine bedrohliche Masse, die