Entzückt über diese Formel, die den Zweiten Weltkrieg meines eigenen Zeitalters so leicht hätte abwenden können, rief ich:
„Bravo, bravo, das ist aber eine feine Bill“, worauf sich Bräutigam, Wortführer, Hausweiser, Beständiger Gast und noch einige andere erstaunt und verständnislos nach mir umwandten, während der Wiedergeborene neben mir tat, als habe er nichts gehört. Der Fremdenführer aber ließ sich durch meinen parlamentarischen Zustimmungslaut nicht stören:
„Es war eine Illusion“, sagte er mit der baritonalen Vibration eines gewiegten Schauspielers, der seine wohlaufgebaute Rede in einer Kadenz der Vergeblichkeit verhauchen läßt, „das Zweinationensystem brachte der Menschheit die Rettung nicht, und es mußten noch viele, viele Zeitalter vergehen und so manche Vorrückung der Sternbilder erfolgen, ehe es dem Menschen endlich gelang, dem natürlichen Ausgang des Lebens allen Schrecken zu nehmen und ihm jene milde Freiheit und Würde zu geben, die den Krieg und die Vorstellung von physischer Feindseligkeit zu einem absurden Nachtmahr macht, den der moderne Mensch eher für ein Lügengewebe überspannter Geschichtsforscher hält als für jenen grauenhaft wirklichen Höllenzwang, dem vor Jahrtausenden sein eigenes Geschlecht unterworfen war. Ja, wenn die Fernsubstanzzertrümmerer nicht wären und die anderen Waffen, auf denen gewissermaßen unsere Häuser gebaut sind . . .“
„Sehr richtig“, rief der Fiancé befriedigt.
„Und dieses Denkmal hier aus gehämmertem Goldmetall, das über den zwanzigtausend wohlerhaltenen Menschenschädeln jenes Letzten Krieges errichtet wurde . . .“
Bei Nennung des Wortes „Menschenschädel“ begannen viele Kinder zu weinen und zu zetern. Ihre Mütter suchten sie zu beruhigen, indem sie leise auf sie einsprachen oder gar Wiegenlieder sangen. Es war ein schmerzliches Gesumm ringsum. Die große Menschenmenge hielt sich ängstlich von dem umgitterten Kreis des Denkmals fern, als habe niemand mehr die Nerven, den Anblick von Totenschädeln zu ertragen. Wieder einmal hatte einer, und zwar der privilegierte Fremdenführer dieses Zeitalters, das Wort „Tod“ vermieden. Was meinte er aber unter der „milden Würde und Freiheit“, die der moderne Mensch „dem Ausgang des Lebens gegeben hatte“? Immer wieder wurde ich vor das wohlbehütete Geheimnis der gegenwärtigen Welt gestellt, und immer tiefer berührte mich dieses Unbekannte. Doch ich mußte schnell mein Gehör dem Vortrag zuwenden, von dem ich bereits einige Sätze versäumt hatte.
„Es war somit“, schlug die etwas heisere Eloquenz an mein Ohr, „nicht wie bei der uranfänglichen Menschheit die natürliche Reibung der Notdurft, die zum Kriege führte, oder die andersgeartete Götterverehrung, sondern nichts als pure, lächerliche Eitelkeit. Jedermann, und zumal die reifere Schuljugend, die ich hiemit eigens begrüße, weiß aus dem Geschichtsunterricht, daß zur Zeit des Letzten Krieges die beiden bestehenden Nationen der Erde sich nannten: Die Blauen und die Roten. Nun hatten die Blauen sowohl als auch die Roten im Laufe ihrer Geschichte einen strahlenden Namensschatz großer Männer und Frauen angesammelt in allen Reichen menschlichen Strebens, als da sind: Gotteskunde, Weltallsweisheit, Chronosophie, Sternwanderschaft, Verwunderertum, Fremdfühlerei, Dichtung, Wissenschaft der Materie, Wissenschaft des Erkennens, Musik, Bildnerei, Abschilderei, Körpergewandtheit und Spiel, obwohl letzteres, das ist der Wert des zwecklosen Spiels, erst knapp vor unserer Zeit ganz und gar erfaßt wurde. Es gab sohin blaue und rote Genies in Hülle und Fülle. Man nannte sie unsterblich und trieb mit ihrem Namen allerlei Aufwand und großen Pomp zum Ersatz für die Sensationen der Politik, die damals schon langsam hinzudorren begannen. Da machte eines Tages ein blauer oder roter Astronom den Vorschlag, man solle die Namen der Sterne, die sich seit der fernsten Urzeit nicht geändert hatten, umbenennen mit den Namen der größten Gotteskünder, Weltalls weisen, Lebensweisen, Dichter, Gelehrten, Bildner, Sänger, Tänzer, Ballspieler, Billardspieler usw. Von der Seite der andern Nation wurde unverzüglich geantwortet, man sei begeistert von dem Gedanken, das Himmelsgewölbe mit den Namen blauer und roter Genies auszusternen. Ein glanzvoller Kongreß trat zusammen, der mehrere Jahre lang tagte. In den ersten Jahren herrschte die schönste Übereinstimmung unter den Mandataren. Zuerst wurden die großen Genies der Frühzeit, die sich in der Geschichte erhalten hatten, unter die Sterne versetzt, es war eine recht ansehnliche Ziffer, dann folgten die Namen der blauen und roten Meister auf allen Gebieten. Da es aber leider unendlich viel mehr himmlische Sterne gab als menschliche Stars, war man gezwungen, bei der großen Umbenennung des Nachthimmels — die jetzt freilich ganz und gar vergessen ist — bis auf die dritte, vierte und fünfte Besetzung des Ruhms hinunterzugehn. Da zwinkerte ein höllischer Dämon mit den Augen, und wegen eines gleichgültigen Ballspielers oder Coupletsängers, rot oder blau, die Historiker haben’s nie ermittelt, brach der große Zwist aus. Die Blauen, es können aber auch die Roten gewesen sein, verließen bebend vor Zorn und unter lautem Protest den Beratungssaal. Ein Mückenstich hatte genügt, den schlummernden Nationalhaß aufzureizen und das hochgerühmte Zweivölkersystem zu sprengen. Immerhin aber waren der Anlaß des Letzten Krieges, wie man das Duell der zweimal Zehntausend nennt, die Sterne am Himmel, ein Fortschritt, es waren die Sterne am Himmel . . . die Sterne . . .“
Die Worte des Fremdenführers dieses Zeitalters verhallten mir im Ohr. Ich konnte sie nicht mehr verstehn. Es war Nacht geworden, und ich hob den Kopf zum Himmel. Einer schönen Sommernacht gedachte ich da, wo ich ebenso den Kopf zum Himmel gehoben hatte, daß er beinahe waagrecht lag. Es war in der Nähe unsres Hauses gewesen, in den Voralpen. Die Milchstraße wölbte sich auch damals über mir, das Mondlicht aber war so stark, daß ihr Schleier nur wie eine Ahnung wehte. Und jetzt war ich tot. Und nicht genug damit, ich befand mich in dieser fremdesten aller Welten, eine zur Schau gestellte Rarität. Wie aber hatte selbst der Himmel sich verwandelt! Man konnte ihn mit dem alten sparsamen Himmel jener verschollenen Nacht ebensowenig vergleichen wie eine überüppige Blumenwiese im Juli mit einer Wiese im März nach der Schneeschmelze. Ich bin kein Astronom noch sonst ein Himmelsgucker oder -kenner; die Zahl der Sterne jedoch schien sich, verglichen mit meiner eigenen Lebenszeit, verzehnfacht zu haben. War es nur die trockener und klarer gewordene Erdatmosphäre, die mehr Sternmillionen enthüllte als früher? Waren inzwischen neue Gestirne in solch unfaßbarer Überzahl ins Leben getreten? Oder fehlte einfach der liebe Mond?
Ich fühlte plötzlich, daß eine schier grauenhafte Wehmut in meiner Kehle emporstieg, ein ganz unausdrückbarer Jammer, wie ich ihn nie gefühlt hatte. Obwohl mein Gesicht starr blieb — es war neuartig kalt geworden um mich —, begannen die Wasser aus meinen Augen zu stürzen. Ich war viel zu traurig, um mein nicht mehr ganz reines Taschentuch zu ziehen. Ich lehnte nur mit zusammengebissenen Zähnen mein Gesicht gegen B.H.s Schulter.
„Was hast du denn, F.W.?“ fragte der alte Freund verstört.
„Mir ist so leid um den Mond, B.H.“, stammelte ich.
SIEBENTES KAPITEL
Worin ich einen Blick in „Die Abendsterne Heute“ tue, zum Unparteiischen in der wichtigsten Streitfrage aller Zeiten bestimmt werde, einen ansehnlichen Erfolg erringe und infolgedessen dem schlummernden Welthausmeier oder auch Geoarchonten oder auch Erdballpräsidenten meine Aufwartung machen darf.
DIESE GRAUENHAFTE WEHMUT, diese herzzerreißende Sentimentalität, ein wahres kosmisches Hundegefühl, welche mir das salzige Naß in die Augen und ein Aufschluchzen in die Kehle trieb, war glücklicherweise unbegründet. Ja, ich hatte grundlos um den Mond gelitten. Die gute Luna war während meiner langen Abwesenheit nicht vom Himmel verschwunden, nicht war sie