»Jemand hat mit erzählt«, sagte Nanni, »dass die Maurer, die an der Spitze des Turmes arbeiten, jammern und sich die Haare raufen, wenn sie einen Stein fallen lassen, denn es dauert vier Monate, um ihn zu ersetzen. Aber niemanden kümmert es, wenn ein Mensch in den Tod stürzt. Stimmt das?«
Einer der etwas redseligeren Karrenzieher, ein Mann namens Lugatum, schüttelte den Kopf. »O nein, das ist nur eine Geschichte. Eine ununterbrochene Karawane von Ziegeln bewegt sich den Turm hinauf; Tausende von Ziegelsteinen erreichen jeden Tag die Spitze. Im Vergleich zum Verlust eines Menschen ist der Verlust eines Steines nichts.« Er lehnte sich zu ihnen herüber. »Aber es gibt etwas, das sie höher schätzen als das Leben eines Menschen: eine Kelle.«
»Warum eine Kelle?«
»Wenn ein Maurer seine Kelle fallen lässt, kann er nicht mehr arbeiten, bis man ihm eine neue hochgebracht hat. Monatelang kann er das Essen, das er verzehrt, nicht verdienen, sodass er Schulden machen muss. Der Verlust einer Kelle ist ein Grund für lautes Wehklagen. Wenn aber ein Mann stürzt und seine Kelle zurückbleibt, sind die anderen insgeheim erleichtert. Der Nächste, der seine Kelle verliert, kann die überzählige verwenden und weiterarbeiten, ohne dass er Schulden machen muss.«
Hillalum war erschüttert, und einen hektischen Augenblick lang versuchte er zu zählen, wie viele Spitzhacken die Bergarbeiter mitgebracht hatten. Dann ging ihm ein Licht auf. »Das kann nicht stimmen. Warum nimmt man nicht Ersatzkellen mit nach oben? Verglichen mit all den Ziegeln, die hinaufgeschafft werden, ist ihr Gewicht nicht von Bedeutung. Und der Verlust eines Menschen hat bestimmt eine ernsthafte Verzögerung zur Folge, außer dort oben steht jemand bereit, der zu mauern versteht. Ohne einen solchen Ersatzmann müsste man warten, bis ein neuer von ganz unten heraufgeklettert ist.«
Die Karrenzieher lachten schallend. »Den können wir nicht an der Nase herumführen«, sagte Lugatum sichtlich erheitert. Er wandte sich Hillalum zu: »Ihr beginnt euren Aufstieg also, sobald das Fest vorbei ist?«
Hillalum nahm einen Schluck aus einer Bierschale. »Ja. Ich habe gehört, dass sich uns Bergarbeiter aus einem Land im Westen anschließen, aber ich habe sie noch nicht getroffen. Weißt du etwas über sie?«
»Ja, sie kommen aus einem Land, das man Ägypten nennt, aber sie fördern nicht Erz wie ihr. Sie bauen Steine ab.«
»Auch wir in Elam graben nach Steinen«, sagte Nanni, den Mund voller Schweinefleisch.
»Nicht so wie die. Die schneiden Granit.«
»Granit?« In Elam baute man Kalkstein und Alabaster ab, aber nicht Granit. »Bist du sicher?«
»Kaufleute, die nach Ägypten gereist sind, erzählen, dass es dort steinerne Türme und Tempel gibt, aus Kalkstein und Granit errichtet, und zwar aus großen Blöcken. Und sie haben dort riesige Granitstatuen.«
»Aber Granit ist so schwer zu bearbeiten.«
Lugatum zuckte mit den Achseln. »Nicht für die. Die königlichen Architekten glauben, dass solche Steinmetze sich als nützlich erweisen könnten, wenn ihr das Himmelsgewölbe erreicht.«
Hillalum nickte. Das könnte durchaus wahr sein. Wer mochte schon wissen, was sie brauchen würden? »Bist du ihnen schon begegnet?«
»Nein, sie sind noch nicht da, aber sie sollen in ein paar Tagen eintreffen. Vielleicht kommen sie erst an, wenn das Fest vorbei ist; dann werdet ihr Elamiter alleine hinaufsteigen.«
»Du wirst uns begleiten, stimmt’s?«
»Ja, aber nur die ersten vier Tage. Dann müssen wir zurückkehren, während ihr das Glück habt, weitergehen zu dürfen.«
»Warum ist das ein Glück?«
»Ich sehne mich danach, bis zur Spitze zu gelangen. Ich habe mal mit Trupps weiter oben Karren gezogen und eine Höhe von zwölf Tagesetappen erreicht, aber weiter bin ich nie gekommen. Ihr werdet viel höher steigen.« Lugatum lächelte wehmütig. »Ich beneide euch darum, dass ihr das Himmelsgewölbe berühren werdet.«
Das Himmelsgewölbe berühren. Es mit Spitzhacken aufbrechen. Bei dieser Vorstellung fühlte sich Hillalum äußerst unwohl. »Es gibt keinen Grund, uns zu beneiden …«, sagte er.
»Aber klar«, fiel ihm Nanni ins Wort. »Wenn wir fertig sind, werden alle Menschen das Himmelsgewölbe berühren.«
Am nächsten Morgen ging Hillalum los, um sich den Turm anzuschauen. Er stand auf dem riesigen Platz, der ihn umgab. Auf einer Seite erhob sich ein Tempel, der für sich genommen schon beeindruckend gewesen wäre, aber jetzt von niemandem mehr beachtet wurde.
Hillalum konnte geradezu spüren, wie massiv der Turm war. Es hieß, dass er so gebaut war, dass er jedem Zikkurat an Festigkeit weit überlegen war; er bestand zur Gänze aus gebrannten Ziegelsteinen, während man gewöhnliche Zikkurats lediglich aus in der Sonne getrockneten Lehmsteinen baute und gebrannte Ziegel nur für die Fassaden verwendete. Als Mörtel wurde Pech benutzt, das in den gebrannten Lehm eindrang und eine Verbindung schuf, die so hart war wie die Ziegel selbst.
Der Sockel des Turms glich den ersten beiden Stufen eines gewöhnlichen Zikkurats. Vor Hillalum ragte eine gewaltige quadratische Plattform von gut zweihundert Ellen Kantenlänge und vierzig Ellen Höhe auf, mit einer dreifachen Treppe an ihrer Südseite. Auf dieser ersten Stufe erhob sich eine weitere Ebene, eine kleinere Plattform, zu der nur die mittlere Treppe hinaufführte. Auf dieser zweiten Plattform ruhte der eigentliche Turm.
Wie eine quadratische Säule von sechzig Ellen Kantenlänge erhob er sich, und er schien das Gewicht des Himmels zu tragen. Eine langsam ansteigende Rampe, die in die Seite des Turms hineingemeißelt war, wand sich um die Säule, so wie der Lederriemen einer Peitsche um den Stiel. Nein; als Hillalum genauer hinsah, erkannte er, dass es zwei ineinander verwobene Rampen gab. Die äußere Seite der Rampen war mit breiten, jedoch nicht besonders dicken Säulen gesäumt, um Schatten zu spenden. Als er seinen Blick den Turm hinaufschweifen ließ, entdeckte er Streifen, die sich miteinander abwechselten – Rampe, Steine, Rampe, Steine –, bis er sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Und immer höher und höher erhob sich der Turm, viel weiter, als das Auge reichte; Hillalum blinzelte, kniff die Augen zusammen, und ihm wurde schwindlig. Er stolperte ein paar Schritte zurück und wandte sich mit Schaudern ab.
Hillalum musste an eine Geschichte denken, die ihm in seiner Kindheit erzählt worden war, über die Zeit nach der Sintflut. Sie handelte davon, wie die Menschen aufs Neue die Erde besiedelten und dabei mehr Land bevölkerten als jemals zuvor. Wie die Menschen zu den Rändern der Welt segelten und sahen, wie die Meere hinabstürzten in den Nebel, um sich tief unten mit den schwarzen Wassern des Abgrundes zu vereinen. Wie die Menschen daraufhin die Größe der Welt erkannten, sie für zu klein befanden und zu sehen begehrten, was jenseits der Grenzen lag — Jahwes Schöpfung in ihrer ganzen Weite. Wie sie himmelwärts schauten und sich Gedanken über Jahwes Heimstatt machten, die über den Speichern liegen mochte, in denen sich die Wasser des Himmels befanden. Und wie sie vor vielen Jahrhunderten begannen, den Turm zu errichten, eine Säule, die sich himmelwärts reckte, eine Treppe, die es den Menschen ermöglichen sollte, aufzusteigen und die Werke Jahwes zu betrachten, und auf der Jahwe würde herabsteigen können, um die Werke der Menschen zu sehen.
Diese Geschichte hatte Hillalum stets Ehrfurcht eingeflößt, eine Geschichte über Tausende von Menschen, die sich unablässig und doch mit Freuden abmühten, denn sie arbeiteten, um Jahwe näher zu sein. Als die Babylonier auf der Suche nach Bergarbeitern nach Elam kamen, war er begeistert gewesen. Nun jedoch, da er am Fuße des Turmes stand, begehrten seine Sinne auf und beharrten darauf, dass es nichts geben dürfe, was so hoch aufragte. Wenn er an dem Turm emporblickte, kam es ihm nicht mehr so vor, als stünde er auf der Erde.
Sollte er ein solches Gebilde besteigen?
Am Morgen des Aufstiegs war die zweite Plattform vollständig mit Reihen zweirädriger Karren bedeckt. Viele davon waren mit nichts als Essen beladen: Säcken mit Gerste, Weizen, Linsen, Zwiebeln, Datteln, Gurken, Brotlaibern und getrocknetem Fisch. Es gab unzählige