»Und sei es, wie es sei«, fällt Frascolin ein, »schnell fort nach San Diego. Übermorgen besäßen wir nicht einmal so viel, um ein Butterbrot bezahlen zu können.«
Darauf zieht er die Brieftasche, entnimmt dieser eine stattliche Anzahl Papierdollar, die zum Glück auch in Milliard City gelten, und will sie eben dem Oberkellner einhändigen, als eine Stimme ruft:
»Diese Herren sind gar nichts schuldig!«
Es war die Stimme Calistus Munbars.
Der Yankee war eben ruhig lächelnd, in gewohnter guter Laune, in den Saal getreten.
»Er!« fuhr Sébastien Zorn auf, den die Lust anwandelte, jenem an die Kehle zu springen und diese zu drücken, wie er den Hals seines Violoncells beim Forte drückt.
»Beruhigen Sie sich, lieber Zorn«, begann der Amerikaner. »Wollten Sie mir freundlichst alle in den Salon folgen, wo der Kaffee aufgetragen ist? Dort können wir in Ruhe plaudern, und nach Schluss unseres Gesprächs …«
»Erwürge ich Sie!« fiel ihm Sébastien Zorn ins Wort.
»Nein … Sie werden mir die Hände küssen …«
»Ich werde Ihnen gar nichts küssen!« polterte der Violoncellist, der vor Wut einmal blass und einmal blaurot wurde.
Kurze Zeit darauf haben sich’s die Gäste Calistus Munbars auf weichen Sofas bequem gemacht, während sich der Yankee auf einem Schaukelstuhle wiegt.
Hier stellt er sich nun seinen Gästen formgerecht in folgender Weise vor:
»Calistus Munbar, aus New York, fünfzig Jahre alt, Urenkel des berühmten Barnum,1 zurzeit Oberintendant der Künste auf Standard Island, verantwortlich für alles, was Malerei, Skulptur, Musik und im Allgemeinen alle Unterhaltungen in Milliard City angeht. Da Sie mich nun kennen, meine Herren …«
»Sind Sie«, fragt Sébastien Zorn, »nicht zufällig auch Polizeispitzel mit der Verpflichtung, fremde Leute in Fallen zu locken und sie darin wider ihren Willen zurückzuhalten?«
»Übereilen Sie sich mit meiner Beurteilung nicht, Sie reizbares Violoncell, und warten Sie erst das Ende ab.«
»Wir wollen warten«, erwidert Frascolin ernsten Tones, »warten und Sie anhören.«
»Meine Herren«, nimmt Calistus Munbar, sich eine graziöse Haltung gebend, wieder das Wort, »ich wünsche mit Ihnen bei dem jetzigen Gespräch nur die musikalische Frage zu erörtern, so wie diese zurzeit auf unserer Schraubeninsel liegt. Theater besitzt Milliard City allerdings noch nicht, doch wenn es das wollte, würden solche wie durch Zauberschlag aus ihrem Boden aufwachsen. Bisher haben unsere Mitbürger ihre musikalischen Bedürfnisse durch vervollkommnete Apparate befriedigt, wodurch sie über dramatische und lyrische Meisterschöpfungen auf dem laufenden erhalten wurden. Wir hören die alten und neuen Komponisten, die Tagesgrößen der Schauspielkunst, die beliebtesten Künstler mittels der Phonographen, wann und so oft es uns gefällt …«
»Eine Drehorgel, Ihr Phonograph!« warf Yvernes verächtlich ein.
»Doch nicht in der Weise, wie Sie das glauben mögen, mein Herr erster Violinist«, antwortet der Oberintendant. »Wir besitzen Apparate, die mehr als einmal die Indiskretion begangen haben, Ihnen zu lauschen, wenn Sie sich in Boston oder Philadelphia hören ließen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie sich hier mit eigenen Händen applaudieren.«
Jener Zeit haben die Erfindungen des berühmten Edison2 nämlich den höchsten Grad der Vollendung erreicht. Der Phonograph ist keineswegs mehr der Musikkasten oder die Spieldose, dem und der er ursprünglich gar zu sehr glich. Dank seinem geistvollen Erfinder bewahrt er jetzt das ephemere Talent der Schauspieler, Instrumentisten oder Sänger für die Bewunderung kommender Geschlechter mit der gleichen Treue auf, wie die Werke der Bildhauer und Maler aufbewahrt bleiben. Ein Echo etwa ist der Apparat geworden, doch ein Echo, treu wie eine Fotografie, das alle Nuancen, alle Feinheiten des Gesanges oder Spiels in unveränderter Reinheit wiedergibt.
Calistus Munbar ergeht sich hierüber mit solcher Wärme, dass es auf seine Zuhörer einen tiefen Eindruck macht.
Er spricht von Saint-Saëns, von Reyer, Ambroise Thomas, von Gounod, Massenet und Verdi, von den unvergänglichen Meisterwerken eines Berlioz, Meyerbeer, Halévy, Rossini, Beethoven und Mozart wie ein Mann, der alle aus dem Grunde kennt, sie zu schätzen weiß und der sich schon lange Zeit bemüht hat, ihren Ruhm noch zu verbreiten, sodass man ihm mit Vergnügen zuhört. Von der schon etwas ablaufenden Wagnerepidemie scheint er jedoch nicht besonders gelitten zu haben.
Als er einmal aussetzt, um Atem zu schöpfen, macht sich Pinchinat die Pause gleich zunutze.
»Das ist ja alles ganz schön und gut«, sagt er; »Ihr Milliard City hat aber nie etwas anderes gehört als Schachtelmusik, als konservierte Melodien, die man ihr wie konservierte Sardinen oder Salt-beef zusendet …«
»Verzeihen Sie, Herr Bratschist …«
»Ja, ja, ich verzeihe Ihnen, bleibe aber doch dabei, dass Ihre Phonographen immer nur Dagewesenes enthalten, dass in Milliard City niemals ein Künstler in dem Augenblick der Ausübung seiner Kunst gehört werden kann …«
»Da möchte ich noch einmal um Verzeihung bitten.«
»Unser Freund Pinchinat verzeiht Ihnen gewiss so oft, wie Sie es wünschen«, bemerkt Frascolin. »Sein Einwurf ist aber dennoch richtig. Ja, wenn Sie sich mit den Theatern Amerikas und Europas in unmittelbare Verbindung setzen können …«
»Halten Sie das für unmöglich, lieber Frascolin?« ruft der Oberintendant, der die Bewegungen seines Schaukelstuhles hemmt.
»Sie behaupten das wirklich?«
»Ich sage nur, dass das ausschließlich eine Geldfrage ist, und unsere Stadt ist reich genug, um sich alle Liebhabereien, jedes Verlangen bezüglich der lyrischen Kunst gewähren zu können. Das ist auch bereits geschehen …«
»Aber wie?«
»Mittels der Theatrophone, die im Konzertsaale des Kasinos aufgestellt sind. Die Gesellschaft besitzt ja zahlreiche unterseeische Kabel, die den Großen Ozean durchziehen und von denen das eine Ende an der Madeleinebai ausläuft und das andere durch unsere großen Bojen schwimmend erhalten wird. Wünscht nun einer unserer