Die Witwe Mönkeberg lächelte nicht; nur die Fältchen einer erfahrenen Ironie spielten ihr ein wenig stärker um Augen und schmale Lippen, als sie erwiderte: „Beeilen Sie sich, lieber Herr Höfgen! Ihre — Lehrerin erwartet Sie schon seit einer Viertelstunde.“ Die boshafte kleine Pause, welche Frau Mönkeberg vor dem Wort „Lehrerin“ machte, bewirkte, daß Hendrik sein Gesicht heiß werden fühlte.
,Sicher bin ich ganz rot geworden‘, dachte er, ärgerlich und beschämt. ,Aber sie kann es wohl hier im Halbdunkel nicht bemerken‘, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, während er sich mit der vollendeten Anmut eines spanischen Granden zurückzog.
„Ich danke Ihnen, gnädige Frau.“ Er hatte die Türe zu seinem Zimmer geöffnet.
Im Raume herrschte ein rosiges Halbdunkel; es brannte nur die mit buntem Seidentuch verhüllte Lampe auf dem niedrigen, runden Tisch neben dem Schlafsofa. In die farbige Dämmerung hinein rief Hendrik Höfgen mit einer ganz kleinen, demütigen, etwas zitternden Stimme: „Prinzessin Tebab, wo bist du?“
Aus einer dunklen Ecke antwortete ihm ein tiefes, grollendes Organ: „Hier, du Schwein — wo denn sonst?“
„Oh — danke —“, sagte, immer noch sehr leise, Hendrik, der mit gesenktem Haupt bei der Türe stehengeblieben war. „Ja . . . jetzt kann ich dich sehen . . . Ich bin froh, daß ich dich sehen kann . . .“
„Wieviel Uhr ist es?“ schrie die Frau aus der Ecke.
Hendrik versetzte bebend: „Ungefähr vier Uhr — denke ich.“
„Ungefähr vier Uhr! Ungefähr vier Uhr!“ höhnte die böse Person, die immer noch im Schatten unsichtbar blieb. „Ist ja drollig! Ist ja ausgezeichnet!“ Sie sprach mit einem stark norddeutschen Akzent. Ihre Stimme war ausgeschrien wie die eines Matrosen, der sehr viel säuft, raucht und schimpft. „Es ist ein Viertel nach vier Uhr“, stellte sie fest, plötzlich unheimlich leise.
Mit derselben schauerlichen Gedämpftheit, die nichts Gutes verhieß, forderte sie ihn auf: „Willst du nicht eben mal ein bißchen näher an mich ran kommen, Heinz — nur ein ganz klein bißchen! Aber erst mach das Licht an!“
Unter der Anrede „Heinz“ zuckte Hendrik zusammen wie unter dem ersten Schlag. Er gestattete es keinem Menschen, auch seiner Mutter nicht, ihn so zu nennen: Nur Juliette durfte es wagen. Außer ihr wußte es wohl niemand hier in der Stadt, daß sein eigentlicher Vorname Heinz war — ach, in welcher süßen und schwachen Stunde hatte er es ihr anvertraut? Heinz: das war der Name, mit dem alle ihn angeredet hatten, bis zu seinem achtzehnten Jahr. Erst als er sich darüber klargeworden war, daß er Schauspieler und berühmt werden wollte, hatte er sich den gewählteren „Hendrik“ zugelegt. Wie schwer war es bei der Familie durchzusetzen gewesen, daß man sich an ihn gewöhnte und ihn ernst nahm — diesen ausgefallenen, anspruchsvollen „Hendrik“! Wie viele Briefe, die mit „Mein lieber Heinz!“ begannen, hatte man unbeantwortet gelassen — bis auch die Mutter Bella und die Schwester Josy sich endlich zu der neuen Anrede bequemten. Mit Jugendfreunden, die hartnäckig bei „Heinz“ blieben, hatte man den Verkehr rigoros abgebrochen; übrigens legte man ohnedies keinen Wert auf den Umgang mit Kameraden, die peinliche Anekdoten aus einer schalen Vergangenheit mit dem wiehernden Gelächter eines taktlosen Humors hervorzuholen liebten. Heinz war gestorben; Hendrik sollte groß werden. — Der junge Schauspieler Höfgen kämpfte einen erbitterten Kampf mit den Agenturen, den Theaterdirektoren und Feuilletonredaktionen darum, daß man seinen frei erfundenen, preziösen Vornamen richtig schriebe. Er zitterte vor Zorn und Gekränktheit, wenn er sich auf einem Programm oder in einer Rezension als „Henrik“ aufgeführt fand. Das kleine „d“ in der Mitte seines selbstgewählten Namens war für ihn ein Buchstabe von ganz besonderer, magischer Bedeutung: Wenn er es erst erreicht haben würde, daß ausnahmslos alle Welt ihn als „Hendrik“ anerkannte — dann war er am Ziel, ein gemachter Mann.
Eine so dominierende Rolle spielte der Name — der mehr als eine Personalbezeichnung, nämlich eine Aufgabe und Verpflichtung war — in Hendrik Höfgens ehrgeizigen Gedanken. Trotzdem duldete er es nun, daß Juliette aus ihrer finsteren Ecke ihn, drohend anredete mit dem abgelegten und verhaßten „Heinz“.
Er gehorchte ihren beiden Befehlen; bewegte den Lichtschalter, so daß plötzlich eine grelle Helligkeit ihm die Augen blendete, und machte dann, die Stirn noch immer gesenkt, ein paar Schritte auf Juliette zu. Einen Meter entfernt von ihr blieb er stehen; auch dieses aber war ihm nicht gestattet. Sie murmelte mit einer heiseren und höchst beunruhigenden Freundlichkeit — wobei ihre Zähne zusammengebissen blieben: „Komm doch näher, mein Junge!“
Da er sich nicht von der Stelle bewegte, lockte sie ihn, wie einen Hund, den man mit Schmeicheltönen an sich heranholt, um dann um so grausamer zu strafen: „Nur näher, mein Schöner! Ganz nahe! Nur keine Angst!“ Er blieb immer noch bewegungslos, immer noch mit dem geneigten Gesicht; Schultern und Arme hingen ihm schlaff nach vorne, um Schläfen und Augenbrauen trat ein leidender, gespannter Zug hervor; die geblähten Nüstern schnupperten ein penetrant süßes und gemeines Parfüm, das sich mit einem anderen, noch wilderen, aber durchaus nicht süßen Geruch — der Ausdünstung eines Körpers — auf erregende und peinigende Art vermischte.
Da das Mädchen durch seine wehleidige und edle Positur auf die Dauer gelangweilt und irritiert wurde, ließ sie plötzlich eine Zornesstimme hören, die wie heiseres Brüllen aus dem Urwald klang: „Steh doch nicht da, als ob du dir in die Hosen gemacht hättest! Kopf hoch, Mensch!“ Majestätischer fügte sie hinzu: „Blicke mir ins Gesicht!“
Er hob langsam den Kopf, während sich der Leidenszug um seine Schläfen vertiefte. Im fahlen Antlitz waren seine grün-blauen Augen erweitert — vor Wonne oder vor Angst. Sprachlos starrte er auf Prinzessin Tebab, seine Schwarze Venus.
Negerin war sie nur von der Mutter her — ihr Vater war ein Hamburger Ingenieur gewesen —; aber die dunkle Rasse hatte sich als stärker erwiesen als die helle: sie sah nicht nach „Halbblut“ aus, sondern beinah nach Vollblut. Die Farbe ihrer rauhen, stellenweis etwas rissigen Haut war dunkelbraun, an manchen Partien — zum Beispiel auf der niedrigen, gewölbten Stirne und auf den schmalen, sehnigen Handrücken — fast schwarz. Heller gefärbt hatte die Natur nur das Innere ihrer Hände; während sie selbst, mittels Auflegen von Schminke, die Farbe ihrer oberen Wangenhälften eigenwillig verändert hatte: über den starken, brutal geformten Backenknochen lag das künstliche Hellrot wie ein hektischer Schimmer. Auch die Augenpartie war kosmetisch bearbeitet: die Brauen abrasiert und durch schmale Kohlestriche ersetzt; die Wimpern künstlich verlängert; die Schatten auf dem oberen Lid, und bis hinauf zu den schmalen Brauen, ins Rötlich-Blaue vertieft. Hingegen hatte sie den wulstigen Lippen die natürliche Farbe gelassen. Über den blendenden Zahnreihen, die sie beim Lachen wie beim Schimpfen entblößte, erschienen sie rauh, wie das Fleisch der Hände und des Halses, und von einem dunklen Violett, gegen dessen trüben Ton das gesunde Rot des Zahnfleisches und der Zunge heftig kontrastierte. In ihrem Gesicht, das von den beweglichen, grausamen und gescheiten Augen und von den blitzenden Zähnen beherrscht war, bemerkte man zunächst gar nicht die Nase; wie flach und eingedrückt sie war, erkannte man erst bei genauerem Hinschauen. Diese Nase schien in der Tat so gut wie nicht vorhanden; sie wirkte nicht wie eine Erhöhung inmitten der wüsten und auf eine schlimme Art attraktiven Maske; eher wie eine Vertiefung.
Für Juliettens höchst barbarisches Haupt hätte man sich als Hintergrund eine Urwaldlandschaft gewünscht, statt dieser bürgerlichen Stube mit ihren Plüschmöbeln, Nippesfiguren und seidenen Lampenschirmen. Übrigens enttäuschte nicht nur die Dekoration, von der dieses Haupt sich abhob, sondern auch die Krönung des Hauptes selber: das Haar. Es war keineswegs die krause, schwarze Mähne, die man zu dieser Stirne, diesen Lippen passend gefunden hätte; vielmehr überraschte es durch Glattheit und eine mattblonde Färbung. Die Frisur war einfach; der Scheitel in der Mitte gezogen. Die dunkle Dame gefiel sich in der Behauptung, so seien ihre Haare immer gewesen, niemals habe sie etwas an ihnen verändert: ihre Farbe und Beschaffenheit habe sie vom Vater, dem Ingenieur Martens aus Hamburg, geerbt.
Daß ein Mann dieses Namens und dieses Berufes ihr Vater gewesen war, schien festzustehen oder wurde doch von niemandem bestritten. Übrigens war Martens seit