Das hinderte sie jedoch nicht, als Gaston ein paar Stunden später zwischen dem Fachwerk des Neubaus herumturnte und sich von ihr bewundern lassen wollte, in den Nachbarhof hinüberzuschlüpfen und auf seine Frage, ob sie sich zu ihm heraufgetraue, durch die Tat zu antworten. Da lief die Kleine furchtlos mit dem sicheren Gleichgewicht der Kindheit auf dem obersten Balken des schon ziemlich hoch gediehenen Baues, bis sie von Roderich gesehen wurde. Der Schlimme ging alsbald zu Tante Fanny, um Vanadis zu verklatschen. Diese gute, aber immer aufgeregte Frau kreischte laut, als sie das Kind in solcher Höhe sah, und schrie durchdringend über die Gartenmauer hinüber: „Vanadis, du fällst!“ Erschrocken blieb das Kind stehen, die eben noch sicheren Füßchen stockten, sie konnte nicht weiter. Doch faßte sie sich noch zum Glück, erreichte den Eckpfosten, an dem sie sich festhielt und von einem Querbalken zum andern gleiten ließ, bis sie den Boden wieder unter den Füßen hatte. Tante Fanny, die den ganzen Vorgang mit Geschrei begleitete, schloß jetzt beruhigt das Fenster. Gaston kam lachend auf dem Längsbalken herabgeritten:
„Bist du schwindelhaft?“
„Nein“, antwortete sie trotzig, „aber es heißt schwindlig.“ (Die Kinder waren angehalten, einander gegenseitig ihre Sprachfehler zu berichtigen.)
„Ich bin niemals schwindlig“, bemerkte der Knabe. „Warum sagt das Fräulein, daß ich ein Schwindler sei?“
Die Kleine blickte ihn verwundert an: „Das weiß ich nicht.“
Plötzlich begannen die Augen des Knaben zu funkeln, sein gallisches Blut war mit einer verfrühten Regung erwacht, daß er auf seine ahnungslose Gespielin zuschoß, sie blitzschnell in eine Ecke trieb und mit hart zustoßenden Fingern nach den kleinen Brüstchen greifen wollte, die noch gar keine waren. Zu Tode erschrocken stieß das Kind gellende Schreie aus und wehrte sich mit Fußtritten gegen den Angreifer, bis das Fräulein herzugestürzt kam und der Knabe Reißaus nahm. Die Kleine hielt ihr zerrissenes Kleidchen über der Brust zusammen und schämte sich fast zu Tode: es war ihr gefühlsmäßig aufgegangen, wenn ihr auch die Begriffe dafür fehlten, daß etwas Fremdes, Unreines sie berührt hatte, das von den Unarten ihrer Brüder und Roderichs grundverschieden war. Sie wollte auch dem Fräulein keine Rede stehen, sondern hatte nur den Trieb, die Schmach von sich zu waschen, vor sich selber wieder rein zu sein. Eilig lief sie über die herumliegenden Balken nach dem Flusse hinab, zog Kleidchen und Hemdchen bis zum Gürtel herunter und bog sich über die Böschung, um sich mit beiden Händen abzuspülen. Aber sie verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Der Fluß war nicht tief; ein Bauer, der in der Nähe arbeitete, zog sie heraus und trug sie triefend nach Hause. Sie hatte etwas Wasser geschluckt, war aber schon wieder bei Besinnung. Auf die erschrockenen Fragen der Umgebung antwortete sie nur, sie habe sich waschen wollen. Sie wurde zu Bett gebracht und mit warmen Tüchern gerieben und war nun wieder selig im Kinderland, denn das Häßliche war abgespült und den Strom hinuntergeschwommen. Die Großmutter saß bei ihr, erzählte Geschichten und hielt ihre Hand, bis sie einschlief. Und nie erfuhr ein Mensch, warum das Kind sich an jenem Tage im Flusse hatte waschen wollen.
Ein paar Tage später war die französische Familie abgereist. Das Dienstmädchen aus dem Nachbarhaus brachte ein Briefchen an Vanadis herüber. Es war mit großen ungleichen Buchstaben äußerst fehlerhaft in zwei Sprachen geschrieben und schloß:
„Chérie, ne m’oublie pas, je ne t’oublierai jamais.
Dein lieber unvergeßlicher André.“
Es war der erste Liebesbrief, den Vanadis empfing, und sie hütete ihn eifersüchtig, doch ohne viel nach dem Absender zu fragen. Von dem vormals bewunderten Gaston hörte sie das Mädchen erzählen, daß er alles im Hause beschmutzt und zerbrochen, die Tiere gequält und seinen gutherzigen älteren Bruder, der schwächer war, mißhandelt habe, kurz, ein wahrer kleiner Teufel gewesen sei.
Aus den kleinen Kindern wurden allmählich größere, Gunther und Roderich besuchten schon das Gymnasium, Vanadis blieb mit ihrer Ausbildung nach wie vor auf Mutter Natur, den väterlichen Bücherschrank und den Unterricht der Großmutter angewiesen, denn mit Mädchenerziehung befaßte sich die Gesetzgebung noch nicht: je weniger sie wußten, für desto wertvoller galten sie. Und da Frau van der Mühlen selber ausschließlich von französischen Bonnen und Gouvernanten unterrichtet worden war, wie es damals der deutsche Adel für notwendig erachtete, so konnte sie auch der hörbegierigen Enkelin nicht mehr geben, als was sie selber empfangen hatte. Das war kunterbunt genug und mischte sich nun mit dem Kunterbunt in dem Köpfchen des Kindes. So wußte die alte Dame zwar aufs genaueste Bescheid über die Etikette, die beim Lever der Marie Antoinette geherrscht hatte, konnte auch viele prickelnde Anekdoten von dem Hof des Ersten Napoleon erzählen, die sie zu Louis Philipps Zeit als junge Gesandtin eines kleinen deutschen Staates in Paris gehört hatte, wußte aber um so weniger von ihrem eigenen Vaterland; dieses war zur Zeit ihres Lernens für ihre Standesgenossinnen noch nicht entdeckt gewesen. Über die Geographie von Deutschland besaß sie ein französisches Handbuch, von einem gewissen Abbé Gauthier verfaßt, aus dem sie selber ehedem ihre Kenntnisse geschöpft hatte. Da hieß es zum Beispiel bei Erwähnung der Lüneburger Heide von den Heidschnucken: „Les Heydschnukes (gesprochen „Edsnük“), petite population noire de la Vestfalie.“ Infolgedessen hatte Frau van der Mühlen unverbrüchlich geglaubt, daß die Heidschnukken Menschen wären, so etwas Ähnliches wie die Heiducken oder die Seldschuken. Erst durch ihre zur Schule gehenden Enkel wurde der Irrtum aufgeklärt, und die Großmutter lachte lustig mit, sooft sie mit den Heidschnucken geneckt wurde, denn sie wollte nicht in Altersweisheit über der Jugend thronen. Vanadis jedoch, die sich ganz fest in die Vorstellung von einer merkwürdigen schwarzen Zwergenrasse in der Lüneburger Heide eingebissen hatte, widersprach mit zornigen Tränen und wollte das wimmelnde Zwergenvolk, das sie sich mit Pfeil und Bogen, schwarz behaart von Kopf zu Fuß dachte, nicht fahrenlassen. Unendliches hatte das Kind mit seinen frühen Jahren nach und nach im unersättlichen Lesehunger verschlungen. Es war ganz gleich, was in ihre Hände fiel, ob ein Schmöker oder ein Klassiker, sie konnte alles gebrauchen: die Bücher fügten sich mit einem höchst wunderbaren Anpassungsvermögen ihrer Innenwelt ein, die immer so viel davon aufnahm, als ihr eine natürliche Nahrung gab. Am schönsten war es, wenn sie aus den brüderlichen Bücherschätzen Coopers Indianergeschichten entwenden konnte. Mit diesen erstieg sie gerne die höchsten Zinnen von Tronje und las und las. Dann dehnten sich die Prärien um sie, die Flüsse der Neuen Welt rauschten, flinke Kanus, von Rothäuten gesteuert, schossen darüber hin, wilde Reiter auf schnellen Rossen warfen sich in die Fluten, um weiße Mädchen zu retten; es war ein herrliches Leben. War sie mit den Indianern fertig, so begab sie sich in das äußerste Thule, um mit Asen und Thursen zu leben; das war fast ebenso schön. Es war ihr unverständlich, daß es Leute gab, die ein Buch an einer bestimmten Stelle niederlegten, um wieder in ihrer leiblichen Umwelt zu sein und des andern Tags an derselben Stelle weiterzulesen. Sie grämte sich, wenn ihr die Nacht dazwischenkam. Neben sich hielt sie stets einen Vorrat von Tannzapfen aufgespeichert zum Schutz gegen etwaige Angriffe, aber es bedurfte dessen nicht mehr, nach dem Schicksalstage der Lumbell wurde Tronje kein zweites Mal gestürmt. Selbst Roderichs Tätlichkeiten hatten aufgehört; wenn sie jetzt noch angegriffen wurde, so war es von seiten ihres Gunthers, der sie gern mit Knittelverschen neckte, worin er ihre Helden durchhechelte. Sie blieb ihm jedoch nichts schuldig, beide hatten eine Begabung für Sprache und Reim, die durch das viele Lesen gestärkt war, und wenn der Mutwille über sie kam, setzten sie sich zusammen auf ein Mäuerchen und bewarfen sich mit Trutzverschen.
Und nun rückte ihr zehnter Geburtstag heran, der im Hause festlich begangen werden sollte. Die Kleine sah ihm mit einer tiefen, feierlichen Bewegung entgegen. Nicht nur, weil jetzt der Zahl ihrer Lebensjahre die bedeutungsvolle Null angehängt werden sollte, sondern weil sie einem ganz großen Erlebnis entgegenging: sie wollte an diesem Tage heiraten. – Heiraten? Jawohl, und wen anders als ihren Längstgeliebten, Einzigen, den Herrn Egon von Solmar. Seit zwei Jahren war das fest bestimmt. Er hatte eines Tages in Gegenwart der Großen zu ihr gesagt: „An deinem zehnten Geburtstag heirate ich dich!“ – und wie erklärend hatte er