Es war in jenen Tagen der Gedanke, ein Mädchen am Knabenunterricht teilnehmen zu lassen, etwas so Außergewöhnliches und Verwegenes, wie es nur der Familie Folkwang einfallen konnte. Der Lehrer selbst, ein kleiner verwachsener Mann von linkischem, behindertem Auftreten und ein wenig stotternd, wußte sich nicht gleich in die Neuheit der Aufgabe zu finden, allein die Unbefangenheit des Kindes gab ihm bald die eigene zurück. Freilich hatte die neue Mitschülerin noch weniger festen Grund unter den Füßen als Roderich nach seinem mehrjährigen, wenn auch schlecht benützten Schulbesuch. Aber ihre Fähigkeit, schnelle Verbindungsbrücken zu schlagen und das Fehlende durch die Vorstellung zu ergänzen, half ihr zum Erfassen des Lehrstoffs nach, wo die Vorkenntnisse mangelten, auch hatte das Überhören der Knaben, worin sie mit Tante Fanny abwechselte, ihr immerhin die Gegenstände, die jenen oblagen, nahegebracht. Herr Wittich war zuerst erstaunt, dann bewegt und schließlich mehr und mehr entzückt von einer Schülerin, die seine Auseinandersetzungen verstand, bevor er zu Ende gesprochen hatte, und da er nicht wußte, daß der weibliche Geist sich naturgemäß schneller entwickelt als der männliche, betrachtete er sie geradezu als eine Wundererscheinung. Roderich gähnte unterdessen und fing Fliegen, die er zwischen den Fingern zwirbelte und dann sachlich eine neben die andere auf den Tisch legte. Das gewährte ihm die doppelte Befriedigung, daß sich Vanadis vor den toten Fliegen graulte und daß er dem Lehrer seine Mißachtung zu verstehen gab. Daß dieser mehr und mehr seine Reden und Fragen über ihn weg an das wißbegierige Mädchen richtete, focht ihn nicht im geringsten an, und nichts lag ihm ferner, als sich durch die Erfolge seiner Mitschülerin zum Ehrgeiz aufstacheln zu lassen. Vielmehr beschäftigte er sich damit, unter dem Tisch, der eine zweite Platte besaß, auf einem Stück Papier abscheuliche Zerrbilder seines Lehrers zu zeichnen mit jener Sicherheit des Strichs, die einer besseren Verwendung wert gewesen wäre. Das von der Natur selbst schon arg verzeichnete Gesicht des Herrn Wittich nahm unter dem Tisch die wunderlichsten und lächerlichsten Tierähnlichkeiten an. Mehr als einmal riß ihm Vanadis das beleidigende Blatt mit schnellem Griff unter dem Tische weg und zerknüllte es in der Stille. Durch diese Bewegung wurde Herr Wittich erst auf den Vorgang aufmerksam gemacht, und er war weise genug, zu tun, als hätte er nichts gesehen. Aber ihr entschlossenes Einschreiten gegen die Verunglimpfung seiner Person vermehrte noch in ihm die fast anbetende Liebe zu der jungen Schülerin.
Zuweilen kam auch sein Sohn Oskar ins Haus, der ein Schulfreund Gunthers war und nur wenig älter als dieser, ein begabter Junge von angenehmer Erscheinung und ruhigem, sicherem Auftreten, in keinem Zuge an die Häßlichkeit und Unbeholfenheit des Vaters erinnernd; er schlug der Mutter nach, einer stillen, anziehenden Frau, die vorzüglichen Klavierunterricht erteilte. Die Eltern hatten ihn zum Theologen bestimmt, weil ihm ein Familienstipendium zustand, das ihn zum theologischen Studium ohne Inanspruchnahme der solcher Belastung nicht gewachsenen elterlichen Kasse berechtigte. Allein Oskar hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Medizin zu studieren, wozu jedoch die Mittel nicht aufzubringen waren, und empfand einen heftigen Widerwillen gegen die geistliche Laufbahn. Es wurde deshalb erwogen, ihn zu einem Kaufmann in die Lehre zu schicken, ein Plan, der ihm ebenso abstoßend war wie der erste. Der innere Kampf gab seinem anziehenden Gesicht einen Ausdruck von frühreifem Ernst, der Vanadis zu Herzen ging, daher sie ihn vor den anderen Kameraden ihrer Brüder bevorzugte. Er pflegte ihr Rosen außerhalb der Jahreszeit zu bringen, wenn es im van der Mühlenschen Park deren keine gab, denn sein Großvater, der Totengräber und Friedhofaufseher Wittich, betrieb zugleich einen Blumenhandel und zog das ganze Jahr hindurch in seinem kleinen, an die Friedhofmauer angelehnten Wärmehaus den schönsten und seltensten Rosenflor. Die meisten Blumen, die in der Stadt zu Hochzeiten oder anderen Festen gespendet wurden, waren zwischen Gräbern gewachsen. Auch die andern Knaben begannen bereits der Schwester Gunthers kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen, denn der Trotz gegen das weibliche Geschlecht schmolz mehr und mehr, seit man sich dem Alter näherte, wo die Liebe ihr Spiel zu treiben beginnt.
Mit dreizehn Jahren hatte sie nichts von dem Ungeschick des Backfischalters an sich, dem plötzlich Arme und Beine zu lang werden, daß es nicht mehr weiß, was mit diesen Gliedmaßen beginnen, sondern die sprichwörtliche Anmut ihres mütterlichen Geschlechtes blieb ihr auch in den ungefälligen Jahren treu. Nur das Gesicht nahm vorübergehend jene Herbheit an, die einzutreten pflegt, wenn die Kindlichkeit verschwindet und die volle Blüte der Jungfräulichkeit noch nicht aufgebrochen ist.
Zur Entschädigung für die vielen Ärgernisse, die ihr sein Sprößling bereitete, hatte Egon sie durch das Geschenk eines kleinen munteren Ponys beseligt, auf dem sie die Wiese und den Forst auf und ab galoppierte und lachte, wenn sie ins Gras flog. Das Pony war ein äußerst gutmütiges Tier, das sich von der jungen Herrin eigenhändig aufzäumen ließ und, weil es den Tag über frei auf der Wiese grasen durfte, des Morgens durch die offene Verandatür an den Frühstückstisch kam, sich ein Stück Zucker zu erbetteln. Es wurde der liebste Spielkamerad der Jugend, die sich abwechselnd auf ihm im Reiten übte, ließ sich auch geduldig einem kleinen Wägelchen vorspannen und trabte auf der Landstraße dahin, fast mehr durch Zuruf der Kinder als durch die Zügel gelenkt. Denn es verstand augenscheinlich die Laute der Menschensprache, wenigstens soweit sie es betrafen, und vor allem seiner Herrin gehorchte es aufs Wort. Es schien sie über alles zu lieben und auch zu fühlen, daß sie das meiste Recht an ihm besaß, denn es lief ihr durch den Garten nach und wieherte zum Gruß, wenn sie zu ihm in den Stall trat. Sie gab ihm den Namen Falada nach dem treuen Roß aus ihrem Lieblingsmärchen. Oft neckte es sich mit ihr ganz auf Menschenweise, indem es sich locken ließ, auf wenige Schritt herankam und, wenn sie es fassen wollte, entwich, um sie spielend in weiterem oder engerem Bogen zu umkreisen. Wenn es sich einmal gar nicht greifen lassen wollte, stellte sie sich unmutig, schalt und drehte ihm den Rücken, um wegzugehen, dann kam es fröhlich wiehernd nachgesprungen.
Die Freunde des Hauses schüttelten den Kopf zu diesem Treiben und fanden, das Mädchen müßte nachgerade gleichaltrigen weiblichen Umgang haben, sonst würde sie noch ganz und gar zum Jungen. Einen solchen aber wollte sie nicht, zwischen ihr und ihren Altersgenossinnen, die in der Stadt nach der alten Schablone heranwuchsen, fehlte jede Brücke. Dagegen erblühte ihr jetzt unmittelbar an ihrer Seite die Freundin, deren sie bedurfte. Das war ihr Schwesterchen Esther. Auch diese war begabt und früh entwickelt und staunte an der noch begabteren älteren Schwester hinauf, nach der sie sich zu arten suchte. Sie war jedoch völlig anderen Schlages, das richtige kleine Mädchen mit dem Sinn für das Nahe und Nützliche. Sie betreute mit Wonne die Puppen, die von der älteren Schwester verschmäht und auf sie übergegangen waren, kleidete sie an, kochte für sie und legte sie allabendlich zu Bett mit größter Sorgfalt und Pflichttreue, und das in einem Alter, das sonst der Puppen schon überdrüssig ist. Wo es im Hause zu helfen gab, sprang sie zu, und manchmal machten schon ihre kleinen Hände ein von Fanny im Übereifer begangenes Ungeschick wieder gut. Die große Verschiedenheit ihrer Naturen war aber den Schwestern nicht bewußt und führte zu keinen Reibungen, sie lehnten sich gegeneinander, wenn das männliche Übergewicht zu drückend wurde. Vanadis liebte das Schwesterchen glühend, was von ihr noch glühender erwidert wurde, denn Esther lebte kein Doppelleben, sie träumte von keiner Insel, wo es schöner war, und von keinem Schiff, das dahin führte. Sie gab ihre ganze Liebe der sichtbaren Umwelt, und ihr tiefster Trieb war zu dienen. Als Jüngstes vom Hause ward sie von allen, auch von den Brüdern, gehätschelt und von niemand angefochten, nicht einmal von Roderich. Sie hatte nur zu lieben und sich lieben zu lassen. So war sie eigentlich die Glücklichste von allen.
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