Reisen. Helon Habila. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helon Habila
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236376
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       HELON HABILA REISEN

       ROMAN

       AUS DEM ENGLISCHEN VON SUSANN URBAN

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      Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit

      Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch

      Litprom e.V. - Literaturen der Welt

      Titel der Originalausgabe:

       Travellers

      © 2019 Helon Habila

      © 2020 Verlag Das Wunderhorn GmbH

      Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelberg

      www.wunderhorn.de

      Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

      Gestaltung & Satz: Leonard Keidel

      Foto Seite 2: © Heike Steinweg

      Ebook ISBN: 978-3-88423-637-6

      Für Sharon, Adam und Edna

      Und für Sue

      Vom Reisen gibt’s keine Rast für mich …

      Alfred Lord Tennyson, Ulysses1

      Es gehört zur Moral, nicht bei sich

      selber zu Hause zu sein.

      Theodor W. Adorno, Minima Moralia2

      Inhalt

       1. Buch EIN JAHR IN BERLIN

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       2. Buch CHECKPOINT CHARLIE

       3. Buch BASEL

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       4. Buch DIE DOLMETSCHER

       5. Buch DAS MEER

       6. Buch HUNGER

       DANKSAGUNG

1. Buch

      1

      Wir kamen im Herbst 2012 nach Berlin und anfangs lief alles gut. Wir wohnten in der Nähe eines Parks in der Vogelstraße. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Apotheke, daneben ein Altersheim und ein Waiseninternat, ursprünglich ein Heim für ledige Mütter, die irgendwann weiterzogen und ihre Kinder zurückließen.

      Das Internat bestand aus zwei düsteren Gebäuden – das eine deutlich jüngeren Datums – hinter einer hüfthohen Mauer aus Betonziegeln und riesigen Tannenbäumen. Abends tobten die Kinder durch den Park, hüpften auf Trampolinen und spielten Ball, glockenhell durchschnitten ihre Stimmen die kühle Luft. Morgens saßen sie im Hof hinter der Mauer und schnitzten unter den aufmerksamen Augen ihrer Betreuer aus Holzstücken Tiere oder flochten Weidenkörbe. Einmal, als Gina und ich früh unterwegs waren, entdeckte uns einer der Jungen, er war im Alter zwischen acht und zehn Jahren, kam angesaust, lehnte sich über die niedrige Mauer, machte fast einen Purzelbaum darüber, während er uns mit strahlendem Gesicht zuwinkte und „Schokolade! Schokolade!“ rief. Ich wandte den Blick ab, ignorierte ihn. Gina blieb stehen und winkte zurück: „Hallo!“ Wie seine Augen in dem kleinen Gesichtchen immer größer wurden! Überrascht und begeistert rannte er zu seinen Kameraden zurück. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn er uns sah, und Gina tat ihm stets den Gefallen, aber ich gewöhnte mich nie daran. Gewöhnte mich weder an das dünne, erwartungsvolle Stimmchen, noch daran, dass die anderen Kinder, ungefähr ein Dutzend, innehielten und ihre gespenstisch ähnlichen Blondschöpfe hoben, mit ihren blauen Augen beobachteten, wie er winkte und „Schokolade!“ rief, als hinge sein Leben davon ab.

      Mark lernte ich kennen, als er mit einem von Ginas Flyern in der Hand zu uns kam. „Ich komme deswegen“, sagte er und schwenkte den gelben Flyer, mit welchem Gina für ihre Porträtserie mit dem Titel Reisende echte Migranten als Modelle suchte. Fünfzig Euro pro Sitzung, gesponsert vom Stipendiumsgeld. Ich zeigte in Richtung Gästezimmer, das sie zum Atelier umfunktioniert hatte. Kurz darauf waren ihre Stimmen bis ins Wohnzimmer zu hören, ihre höflich, aber bestimmt, seine fragend, voller Einwände. Gina hatte ihn abgelehnt und ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht ins Zeug zu legen, sie werde ihre Meinung nie und nimmer ändern. Später, als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie ohne weitere Erklärung, er passe nicht. Wahrscheinlich sah er zu jung aus, war sein Gesicht zu glatt, ohne den Charakter, den nur Zeit und Erfahrung verleihen. Die Woche davor hatte sie eine Frau mit ihrer vierjährigen Tochter gemalt. Während Gina ihre Staffelei aufbaute, wartete die Frau im Wohnzimmer, immer noch in ihrem Wollmantel, einem alten, schäbigen Teil, und als ich sie fragte, ob ich ihr den Mantel abnehmen könne, schüttelte sie den Kopf. Ich wandte mich an ihre Tochter, fragte, ob sie etwas trinke wolle, da zog die Frau ihr Kind näher zu sich heran. Vor zwei Wochen hatte ihr ein Mann, Manu, Modell gesessen, der mir erzählte, in seinem früheren Leben sei er Arzt gewesen, jetzt arbeite er als Türsteher in einem Nachtclub und warte auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. Sein Gesicht war faltig, vor der Zeit gealtert, und ich wusste, Gina würde von diesen Falten entzückt sein, jede einzelne ausdrucksstarkes Zeugnis dessen, was er zurückgelassen hatte, der Grenzen und Flüsse und