Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Juan Gabriel Vásquez
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761945
Скачать книгу
ff64-57c3-96ae-3c3a1b36f150">

      

      Inhalt

       [Cover]

       Titel

       Widmung

       Zitat

       Frau am Ufer

       Der Doppelgänger

       Die Frösche

       Schlechte Nachrichten

       Wir

       Flughafen

       Die Jungen

       Der letzte Corrido

       Lieder für die Feuersbrunst

       Anmerkung des Autors

       Zitatnachweis

       Autorenporträt

       Übersetzerporträt

       Kurzbeschreibung

       Impressum

Titel.jpg

      Jorge Luis Borges, »Das Ende«

      Meine Vergangenheit, wem mag sie wohl gehören?

      Jorge Luis Borges, »All our yesterdays«

      I

      Schon immer wollte ich die Geschichte aufschreiben, die mir die Fotografin erzählt hat, konnte es aber nur mit ihrer Erlaubnis, ihrem Einverständnis. Die Geschichten der anderen sind unantastbares Terrain, zumindest für mich, denn oft steckt in ihnen etwas, was ein ganzes Leben erklärt und begründet, und sie zu stehlen und aufzuschreiben ist weitaus schlimmer, als ein Geheimnis zu verraten. Jetzt hat sie mir aus Gründen, die keine Rolle spielen, diese Aneignung gestattet und nur darum gebeten, dass ich die Geschichte so erzähle, wie ich sie an jenem Abend von ihr gehört habe: ohne Änderungen, Ausschmückungen, ohne Paukenschläge, aber auch ohne Schalldämpfer. »Fangen Sie an wie ich«, sagte sie. »Beginnen Sie mit meiner Ankunft auf der Farm, als ich die Frau gesehen habe.« Und das will ich tun, denn mir scheint, sie hat über mich einen Weg gefunden, sich die eigene Geschichte erzählen zu lassen und etwas zu verstehen (oder es zumindest zu versuchen), was ihr bisher immer wieder entglitten war.

      Die Fotografin hatte einen langen Vornamen, und ebenso lang waren ihre Nachnamen, doch jeder nannte sie J. Mit den Jahren war sie fast zur Legende geworden, einer dieser Menschen, über die man Dinge weiß: dass sie immer in Schwarz ging, niemals Schnaps trank und hinge ihr Leben davon ab. Man wusste, dass sie sich Zeit nahm, mit den Leuten sprach, bevor sie die Kamera aus dem Rucksack zog, und oft waren ihre Erinnerungen, nicht die Recherchen der Stoff, aus dem die Journalisten ihre Artikel schrieben. Man wusste, dass andere Fotografen ihr folgten, hinterherspionierten und glaubten, sie merkte es nicht; sie stellten sich hinter sie und versuchten vergebens zu sehen, was sie sah. Sie hatte die Gewalt beharrlicher (und auch einfühlsamer) dokumentiert als jeder andere Fotojournalist, und von ihr stammten die erschütterndsten Bilder unseres Krieges: die von der Guerilla zerstörte Kirche, zwischen deren Trümmern eine alte Frau weint; der Arm eines jungen Mädchens, darin eingeritzt die bereits vernarbten Initialen der paramilitärischen Gruppe, die ihren Sohn vor ihren Augen ermordet hatte. In manchen privilegierten Gegenden hatten sich die Dinge inzwischen geändert. Die Gewalt war auf dem Rückzug, und die Leute lernten wieder so etwas wie Ruhe kennen. Diese Orte besuchte J. gern und wann immer sie konnte: um auszuruhen, dem Alltag zu entfliehen, oder einfach nur, um persönlich diese Veränderungen zu bezeugen, die man früher für unmöglich gehalten hätte.

      So kam sie zur Hacienda Las Palmas. Die Farm war das, was von den neunzigtausend Hektar, die den Eigentümern früher einmal gehört hatten, übrig geblieben war. Die Galáns hatten die Llanos nie verlassen und wollten auch das alte Haus nicht renovieren, sie lebten dort zufrieden und gingen barfuß über den Lehmboden, ohne die Hühner aufzuschrecken. J. kannte sie, da sie vor zwanzig Jahren schon einmal bei ihnen gewesen war. Damals hatten die Galáns das Zimmer einer Tochter vermietet, die in Bogotá Landwirtschaft studierte, und J. sah vor ihrem Fenster, was man dort den Spiegel aus Wasser nannte: einen fast hundert Meter breiten Fluss, der so ruhig war, dass er einem See glich. Die Wasserschweine durchschwammen ihn, ohne dass die Strömung sie vom Weg abbrachte, und manchmal ragte, reglos treibend, ein gelangweilter Krokodilkaiman aus dem Wasser.

      Bei ihrem zweiten Besuch schlief J. nicht in diesem Zimmer voll fremder Dinge, sondern in der bequemen Neutralität eines Gästezimmers mit zwei von einem Nachtschränkchen getrennten Betten. (Nur eines benutzte sie und hatte sogar Mühe, zu wählen.) Alles andere war genau wie damals: Da waren die Wasserschweine, die Kaimane und das ruhige Wasser, durch die Dürre noch träger. Vor allem waren da die Menschen. Denn die Galáns, die ihre Farm fast nur zum Kauf von Materialien verließen, luden die Welt zu sich ein. Ihr Tisch, eine gewaltige Holzplatte neben dem Kohleherd, war immer besetzt mit Leuten von überallher, Besucher von den Nachbarfarmen oder aus Yopal, Freunde der Töchter, mal in ihrer Begleitung, mal allein, Zoologen oder Tierärzte, Viehzüchter, die über ihre Probleme reden wollten. Auch diesmal war es so. Die Leute setzten sich zwei, drei Stunden ins Auto, um die Galáns zu besuchen. Bei J. waren es sieben gewesen, und die war sie gern gefahren, hatte beim Tanken Pause gemacht, die Fenster ihres alten Geländewagens heruntergekurbelt, um die wechselnden Gerüche der Landstraße einzusaugen. Manche Orte haben eine magnetische Anziehungskraft, vielleicht zu Unrecht (unser Hang zum Mythischen, unser Aberglaube helfen nach). Für J. war Las Palmas ein solcher Ort. Und das suchte sie: ein paar Tage Ruhe unter Löfflern und Leguanen, die von den Bäumen herabkletterten und die Mangos am Boden fraßen, an einem Ort, der früher Schauplatz der Gewalt gewesen war.

      Da saß sie also am Abend ihrer Ankunft unter dem weißen Licht einer Neonröhre und aß Fleisch mit gefüllten Bananen, in Gesellschaft von einem Dutzend Unbekannter, die einander offensichtlich auch nicht kannten. Man sprach über alles Mögliche – wie friedlich es in der Gegend geworden war, dass kein Geld mehr erpresst, kaum mehr Vieh gestohlen wurde –, als sie den Gruß einer Frau hörte, die gerade dazugekommen war.

      »Gesegneten Abend«, sagte sie.

      J. blickte wie die anderen auf, hörte, wie die Frau um Entschuldigung bat, ohne jemanden anzublicken, sah, wie sie einen Plastikstuhl heranzog, und da spürte sie ein Wiedererkennen. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich erinnerte oder sich bewusst wurde, dass sie die Frau genau hier kennengelernt hatte, auf der Hacienda Las Palmas, vor zwanzig Jahren. Die Frau dagegen erinnerte sich offenbar nicht an J.

      Als man später die Unterhaltung in den Hängematten und Schaukelstühlen fortsetzte, dachte J.: Besser so.

      Besser, sie hatte sie nicht erkannt.

      II

      Vor zwanzig Jahren war Yolanda (so hieß die Frau) mit einer Gruppe gekommen. J. war sie gleich aufgefallen: diese Haltung einer belauerten Beute, der angespannte Schritt, die Art, sich zu bewegen, als hätte sie es eilig oder erledigte einen Auftrag. Sie wollte ernster wirken, als sie war, vor allem ernster als die Männer in der Gruppe. Beim ersten gemeinsamen Frühstück, man hatte den Tisch in den Schatten eines Baumes gerückt, der mit dumpfem Klacken von Bocciakugeln Mangos fallen ließ (ja, da war auch der lauernde