Unterdes hat das Packeis sie beträchtlich nach Nordwest zurückgeschoben. Hier durchstossen zu wollen scheint aussichtslos. Am 27. hat Ross zwar die Genugtuung, auf dem 158. Meridian einen halben Grad südlicher gekommen zu sein als Cook, aber am nächsten Tag liegt er schon wieder um so viel nördlicher. Immer noch ziehen unübersehbare Eisfelder von Süden herauf, und wenn ein Nordwind erlaubt, ihnen entgegenzusteuern, und die Schollen beiseite weichen, scheint es zwar, als ob die Schiffe gute Fortschritte machen, aber das ist eine Augentäuschung; nur das Eis treibt so schnell an ihnen vorüber, sie selbst liegen ziemlich auf der gleichen Stelle. Am 30. Januar wird beim Vorwärtsbugsieren mit Hilfe der Boote der „Erebus“ gegen eine Eismasse geworfen, sein Bugspriet zerbrochen, sein Tauwerk schwer beschädigt. Die Lage wird immer kritischer — dabei verrinnt die kostbarste Zeit des Jahres mit diesem aufreibenden Kampf gegen das Packeis.
Aber irgendwann muss doch auch dieser Eisgürtel, dessen Breite Ross auf 1800 Kilometer berechnet, zu Ende gehen! Am 1. Februar stehen in Südwest dunkle Nebelwolken — ein Wasserhimmel! Und wirklich wird schon am Abend offenes Meer gesichtet. Der Anblick des sich nähernden Packeisrandes aber ist schreckenerregend: er besteht aus grossen, unterwaschenen Eismassen, um die eine wütende Brandung schäumt. Ein steifer Nordwind füllt die Segel, der Durchstoss muss trotz der einbrechenden Dunkelheit sofort gewagt werden, denn wenn der Wind sich legt oder wendet, wenn die Schiffe etwa bei plötzlichem Sturm oder bei Windstille von diesem schweren Packeisrand aufgefangen werden, dann ist kaum noch etwas zu hoffen. Jedes Zaudern ist sicherer Untergang — der Wind droht bereits zum Sturm anzuwachsen; alle Segel ausser dem Mars- und Hauptsegel müssen eingezogen werden. Kurz nach Mitternacht gibt Ross den Befehl zum Angriff. Die gesamte Mannschaft ist auf Deck, jeder an dem ihm zugeteilten Posten. Es ist völlig Nacht, nur der fahle Schein der Brandungslinie bezeichnet das Ziel. Der „Erebus“ fährt voran, der „Terror“ dicht hinter ihm. Das Auge des Kommandanten sucht vergebens nach einer Lücke in diesem Wall von brüllenden Eisblöcken und Gischt, es bleibt keine Wahl als geradeaus! Bald poltern die ersten Eistrümmer gegen die Schiffswände, die Wogen branden auf Deck, mächtige Eisschollen stemmen und bäumen sich gegen den Bug, der Vordersteven bricht — es gibt kein Zurück mehr! Der Wind füllt die wenigen Segel, dass die Masten sich biegen, seine starke Faust pflügt mit dem eisenfesten Schiff die rollenden Massen beiseite. Zwei Stunden dauert der verzweifelte Kampf — dann ist das Wagestück gelungen, das offene Meer erreicht, die sechsundvierzigtägige Gefangenschaft im Eis überstanden. Am Himmel leuchten die ersten Sterne — ein schlimmes Vorzeichen: der Sommer geht bald zu Ende.
Noch ist die Gefahr nicht vorüber. Überall zeigen sich Nachzügler des Packeises; Sturm, Nebel, Windstille — alle haben sich gegen Ross verschworen; er kommt nach Süden nicht durch, immer wieder muss er nach Westen ausweichen. Als er am 13. Februar endlich mit vollen Segeln nach Süden fahren kann, ist er nur 10 Grad von seiner vorigen Route entfernt, dicht beim 180. Grad westlicher und östlicher Länge. So viel wie möglich hält er auf Südosten zu. Am 20. Februar segelt er etwa 50 Kilometer von der Stelle vorbei, wo er voriges Jahr aus dem Packeis und dem sich schon bildenden Neueis flüchten musste; diesmal ist ausser wenigen Eistrümmern das Meer völlig offen. Ein schneidend kalter Wind weht von der Eisbarriere herüber; das Spritzwasser gefriert, sobald es auf Verdeck und Tauwerk fällt; ein Fisch, der mit heraufgeschleudert wird, ist im Augenblick angefroren. Die Matrosen haben unausgesetzt zu tun, diesen Eisballast wegzuhacken. Am 22. Februar erscheinen die ersten Tafeleisberge; um Mittag auf 76° 42′ südlicher Breite und 165° 50′ westlicher Länge belagern sie die Schiffe von allen Seiten, rühren sich aber nicht vom Fleck; in 350 Meter Meerestiefe sind sie auf einer Schlammbank gestrandet. Kurz vor Mitternacht dieses Tages wird von der Mastspitze aus die grosse Eisbarriere sichtbar. Ross hält direkt auf sie zu und nähert sich ihr bis auf 10 Kilometer; dann wendet er nach Osten, immer noch in der Hoffnung, um ihr Ostende herum noch ein Stück weiter nach Süden segeln zu können. Gegenwind zwingt ihn am 23. Februar, zu wenden; er fährt so dicht an die Eisbarriere heran, wie der Gürtel von Eisstücken an ihrem Fuss zulässt. Das Senkblei findet in 520 Meter Tiefe Grund mit grünem Schlamm und kleinen vulkanischen Steinen. Da der Eiswall hier nur 35 Meter hoch ist, kann sein äusserer Rand unmöglich auf Meeresboden ruhen. Seine Umrisse sind diesmal viel unregelmässiger als im vorigen Jahr; da, wo die Schiffe liegen — auf 77° 49′ südlicher Breite und 162° 36′ westlicher Länge —, öffnet sich sogar eine Bucht von etwa 15 Kilometer Tiefe, aber sie ist so mit Eistrümmern angefüllt, dass an Hineinfahren nicht zu denken ist; die grossen Veränderungen, die seit dem ersten Besuch im Rand der Eisbarriere vor sich gegangen sind, machen ihre Nähe nur noch gefährlicher; sie hat offenbar stark „gekalbt“. Dennoch wagen sich die Schiffe bis auf 2½Kilometer heran und erreichen auf 78° 9′ 30″ ihre höchste südliche Breite in 161° 27′ westlicher Länge. Aus den Messungen ergibt sich, dass die Eisbarriere von diesem Punkt aus in nordöstlicher Richtung abbiegt; damit entschwindet bei der vorgerückten Jahreszeit jede Hoffnung, ihr Ende umfahren zu können. Ross verfolgt sie noch einige Kilometer östlich, denn dort wird sie noch niedriger, ist kaum 25 Meter hoch, und von der Mastspitze aus bietet sich nun ein weiter und sehr überraschender Ausblick über die rätselhafte Eisebene: sie steigt nach Süden allmählich an und verliert sich zwischen hohen, schneebedeckten Bergen, in Erhebungen, wie ein Gletscher sie unmöglich zeigen kann. Hier muss Land sein, wenn das Ganze nicht eine Augentäuschung ist! Denn nicht das kleinste Felsstück durchbricht die einförmige weisse Fläche. Ross und seine Begleiter haben richtig vermutet: die heutige Karte der Antarktis verzeichnet nur etwas weiter östlich König-Eduard-VII.-Land! Und auch die Buchtenbildung der Eisbarriere auf den Meridianen 162—164 westlicher Länge spielt in der späteren Entdeckungsgeschichte der Antarktis eine grosse Rolle. Hier hat der Eiswall offenbar seine verwundbarste Stelle.
Am Morgen des 24. Februar rückt das Packeis von Norden her wieder so dicht heran, dass Ross sich zum Rückzug entschliessen muss. Die Kälte ist obendrein so stark, dass sich aus offener See Eisflächen bilden. Ein frischer Südost kommt den Schiffen in ihrer bereits gefahrvoll gewordenen Lage zu Hilfe; sie brechen 45 Kilometer weit durch Jungeis, und sobald sie wieder in freiem