Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Billingham
Издательство: Bookwire
Серия: Tom Thorne
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788742820186
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daran arbeiten.

      Der Mann ihm gegenüber wirkte erregt, hatte erneut einen harten Tag im Büro hinter sich. Er hatte das blasse und fleckige Gesicht eines Rauchers. Die geplatzten Äderchen an seinen Wangen waren möglicherweise ein Hinweis auf seinen schlecht funktionierenden Kreislauf und übermäßiges Trinken. Die kleinen hellen Flecken auf seinen Augenlidern, das Xynthelasma, waren ein ziemlich eindeutiger Hinweis auf den zu hohen Cholesterinspiegel und die verkalkten Arterien.

      Der Geschäftsmann biss die Zähne zusammen, als er seine Zeitung umblätterte.

      Er gab ihm noch zehn Jahre, höchstens.

      Während der verbeulte blaue Mondeo sanft durch den frühmorgendlichen Verkehr auf der Marylebone Road glitt, schob Thorne die Massive-Attack-Kassette in die Stereoanlage und lehnte sich zurück. Wenn er sich entspannen und abschalten wollte, hätte er nach Johnny Cash, Gram Parsons oder Hank Williams gegriffen, doch um sich zu konzentrieren, gab es nichts Besseres als diese sich ständig wiederholende, hypnotisierende, dumpf hämmernde Musik, für die er fünfundzwanzig Jahre zu alt war. Wie immer, wenn der mechanische Takt von »Unfinished Sympathy« aus den Lautsprechern dröhnte, rief er sich das ungläubige Gesicht des jungen Verkäufers im Plattenladen in Erinnerung. Der blasierte kleine Mistkerl hatte ihn angeblickt, als wäre er irgendein alter Sado, der immer noch so tat, als befände er sich am Puls der Zeit.

      Das picklige Teenagergesicht verwandelte sich zum unendlich attraktiveren von Anne Coburn. Welche Musik ihr wohl gefiel? Klassik wahrscheinlich, aber sie hatte bestimmt auch ein oder zwei Alben von Jimmy Hendrix hinter ihrem Mozart und Mendelssohn versteckt. Was würde sie von seinem Hang zu Trip-Hop und Speed-Garage halten? Er vermutete, dass sie das mit der Sado-Theorie erklären würde. Er blieb an der Ampel stehen und drehte das Fenster herunter, um die hochnäsig wirkende Frau im Saab neben ihm mit dem Wummern der Musik zu überschütten. Thorne blickte stur geradeaus. Als die Ampel gelb wurde, drehte er sich um, winkte ihr zu und ließ seinen Wagen sanft anrollen.

      Und wenn er zurück auf dem Revier war? Dort würde ein Durcheinander von effizient klingenden Stimmen zu hören sein, ein Hin- und Herhuschen mit Akten und ein Piepsen und Surren von Faxgeräten und Modems. Thorne trommelte den Rhythmus auf seinem Lenkrad mit. Den Hintergrund zu dieser Montage würde die Wand bilden — eine Tafel mit Namen, Daten und Aktionen. Darüber würden die Fotos aufgereiht sein: Christine, Madeleine und Susan. Ihre ungezeichneten Gesichter würden eine blasse Leere ausstrahlen, doch in jedem Gesicht, so dachte Thorne, würde ein schrecklicher letzter Moment eines ungewohnten Gefühls festgehalten sein. Verwirrung. Schrecken. Bedauern. Er drehte die Musik lauter. Während in den Fabriken und Büros, überall in der Stadt, Arbeiter verstohlene Blicke auf Kalendermädchen warfen, würden die Tage, Wochen und Monate, die vor Thorne lagen, von den vorwurfsvollen Gesichtern der toten Christine, der toten Madeleine und der toten Susan begleitet werden.

      »Wie geht’s, Tommy!«

      Christine Owen. Vierunddreißig. Aufgefunden am Fuß einer Treppe ...

      »Rüttle sie wach, Tom, los, verdammt noch mal!«

      Madeleine Vickery. Siebenunddreißig. Tot auf dem Küchenboden. Ein Topf angetrockneter Spaghetti auf der Herdplatte ...

      »Bitte, Tom ... «

      Susan Carlish. Sechsundzwanzig. Ihre Leiche wurde in einem Lehnstuhl vor dem Fernseher gefunden ...

      »Sag uns, was du unternehmen wirst, Tom.«

      Sie würden Listen erstellen, keine Frage, lange Listen mit Querverweisen zu anderen Listen. Detective Constables würden Hunderten von Menschen dieselben Fragen stellen und ihre Hinweise sauber eingeben, und Detective Sergeants würden Stellungnahmen aufnehmen und Telefonate führen und ihre eigenen Hinweise abtippen, die sortiert und registriert werden würden, und unzählige Überstunden später würden sie vielleicht Glück haben ...

      »Entschuldigt, noch immer keine heiße Spur.«

      Diesen Kerl würden sie nicht mit einer bestimmten Vorgehensweise finden. Thorne spürte es bereits. Dies war nicht der übliche Instinkt eines Polizisten, wie ihn ein Thriller-Autor beschreiben würde — das wusste er. Der Mörder könnte sich schnappen lassen ... Ja, die Möglichkeit bestand. Die Profiler und psychologischen Experten nahmen an, dass Verbrecher tief in ihrem Innern den Wunsch hegten, geschnappt zu werden. Er würde Anne Coburn fragen, was sie darüber dachte, wenn er sie das nächste Mal sah. Sollte sich diese Gelegenheit eher früher als später ergeben, würde er sich sicher nicht beschweren.

      Thorne fuhr auf den Parkplatz und machte die Musik aus. Er blickte zu dem schmutzig braunen Gebäude hinauf, in dem Backhand seine Heimstatt gefunden hatte. Vor Monaten war beschlossen worden, die alte Polizeistation auf der Edgware Road zu schließen, die nun fast leer stand, doch die freien Büros in den oberen Stockwerken waren für die Sonderkommission Backhand wie geschaffen. Wie geschaffen für die Glücklichen, die nicht jeden Tag dort arbeiten mussten. Ein monströses Großraumbüro — ein riesiges Aquarium für die kleinen Fische und ein paar kleinere für die größeren Fische.

      Einen Moment lang hatte er große Angst, hineinzugehen. Er stieg aus dem Wagen und lehnte sich gegen die Motorhaube, bis er sich beruhigt hatte.

      Während er zum Eingang schlenderte, traf er eine Entscheidung. Er würde nicht zulassen, dass jemand ein Bild von Alison an die Wand hängte.

      Vierzehn Stunden später fuhr Thorne nach Hause und rief seinen Vater an. Sie sprachen so oft miteinander, wie Thorne es einrichten konnte, sahen sich aber selten. Jim und Maureen Thorne waren vor zehn Jahren von North London nach St. Alban´s gezogen, doch seit dem Tod seiner Mutter spürte Thorne, wie der Abstand zwischen ihm und seinem Vater ständig größer wurde. Nun waren beide allein, und ihre Telefongespräche waren entsetzlich trivial. Sein Vater war immer scharf darauf, ihm schmutzige Witze oder Pubgeschichten zu erzählen, und Thorne hörte sie sich tatsächlich gerne an. Es gefiel ihm, wenn ihn sein Vater zum Lachen brachte — es gefiel ihm, wenn er ihn lachen hörte. Thorne war sich sicher, dass sein Vater ansonsten ziemlich selten lachte. Sein Vater wusste verdammt gut, wie wenig er lachte.

      »Bevor ich auflege, hier noch ein Witz, Tom.«

      »Schieß los, Dad.«

      »Was hat einen zwei Zentimeter langen Schwanz, der nach unten hängt?«

      »Weiß ich nicht.«

      »Eine Fledermaus.«

      Das schien nicht sein bester Witz zu werden.

      »Was hat einen zwanzig Zentimeter langen Schwanz, der nach oben hängt?«

      »Keine Ahnung.«

      Sein Vater legte den Hörer auf.

      Er setzte sich hin und schwieg für ein paar Minuten. Dann fing er an, leise zu sprechen. »Vielleicht war der Brief an der Windschutzscheibe etwas zu ... wichtigtuerisch. Das ist nicht meine Art, wirklich. Ich gehöre nicht zu dieser Sorte von Menschen. Ich denke, ich wollte nur sagen, dass es mir wegen der anderen Frauen Leid tut. Nun, wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ein Teil von mir einfach nur prahlen wollte. Und ich denke, Thorne ist ein Mensch, mit dem ich reden kann. Er scheint jemand zu sein, der verstehen wird, wie stolz ich bin, dass ich die Sache richtig hin-. bekommen habe. Perfektion ist alles, oder nicht? Wurde mir das nicht beigebracht? Das kannst du mir glauben. Ich bin gut erzogen worden.

      Ich meine, es war mühsam, und ich sage nicht, dass mir keine weiteren Fehler unterlaufen werden, aber was ich tue, gibt mir das Recht auf Misserfolge, meinst du nicht? Diese ... Frustration, die ich spüre, hat damit zu tun, dass ich mir nur vorstellen kann, wie gut es sich mit den Geräten anfühlt. Sauber und sicher. Frei, um sich entspannen zu können und die Gedanken umherschweifen zu lassen. Kein Chaos. Und wenn ich stolz darauf bin, dass ich einen Körper von der Tyrannei des Kleinlichen und des Ekelhaften befreit habe, kann ich doch dafür mit Sicherheit nicht bestraft werden. Es ist die einzig wirkliche Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Freiheit von unseren schwerfälligen Bewegungen. Von unserer ... Empfindlichkeit. Um von unserer Eintönigkeit und unserem Alltag erlöst zu werden. Genährt und sauber. Überwacht und versorgt. Während unsere ekelhaften Körpersäfte beseitigt