Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Billingham
Издательство: Bookwire
Серия: Tom Thorne
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788742820186
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      Der kuss des sandmanns

      Der kuss des sandmanns

      © Mark Billingham 2001

      © Deutsch: Jentas A/S 2020

      Serie: Tom Thorne

      Titel: Der kuss des sandmanns

      Teil: 1

      Originaltitel: Sleepyhead

      Übersetzer: Helmut Splinter

      © Übersetzung : Jentas A/S

      ISBN: 978-87-428-2018-6

      –––

      Für Claire,

      für alles — du bist meine Schokolade

      –––

      Guy’s & St. Thomas’

      Hospital Trust

      Abteilung Histopathologie

      Frau Dr.

      Angela Wilson

      Gerichtsmedizinerin

      Southwark

      26. Juni 2000

      Sehr geehrte Frau Dr. Wilson,

      nach unserem letzten Telefonat möchte ich hier meine Sichtweise zusammenfassen, die Sie als Anhang zu meinem Autopsiebericht (AB2698/RT) zu Ms. Susan Carlish verwenden könnten, einem 26jährigen Schlaganfallopfer, das am 15. Juni in seiner Wohnung aufgefunden wurde.

      Der Tod trat infolge eines Hirnstamm-Infarkts ausgelöst durch einen Basilararterienverschluss ein, der wie eine spontane vertebrale Arterienläsion aussieht. Die Untersuchung erfolgte zwölf Stunden nach dem Tod. Eine Protein-C- und Protein-S-Mangel-Analyse konnte ich nicht durchführen. Abgesehen davon und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ms. Carlish Gelegenheitsraucherin war, lagen keine herkömmlichen Infarktrisiken vor. Ich entdeckte auch ein kleines Halswirbeltrauma mit Beschädigung der Bänder zwischen HW1 und HW2, was allerdings auch auf ein älteres Peitschenhiebsyndrom oder eine Sportverletzung zurückgeführt werden kann. Im Blut ließen sich Spuren eines Benzodiazepins nachweisen. Nachforschungen haben ergeben, dass sich Ms. Carlishs Mitbewohner vor achtzehn Monaten Valium verschreiben ließ.

      Während ich bezüglich der Todesursache keine Zweifel habe und eingestehen muss, dass alle polizeilichen Ermittlungen zu keinen Ergebnissen führten, halte ich mit einigen Kollegen Rücksprache und lasse allen pathologischen Instituten und Leichenschauhäusern von Greater London eine Kopie dieses Schreibens zukommen. Ich möchte Vergleiche anstellen mit weiteren Infarktopfern (möglichst weiblich, 20—30 J.), die alle oder einzelne der folgenden Besonderheiten aufweisen:

      Fehlen herkömmlicher Risikofaktoren

      durchtrennte Bänder im Halswirbelbereich

      Benzodiazepine im Blut

      Wenn Sie meine Ergebnisse vielleicht in Hinblick auf eine zweite Autopsie besprechen möchten, würde ich mich freuen, wenn wir uns darüber unterhalten könnten.

      Kollegiale Grüße

      Dr. Roger Thomas

      FRC Path, beratender Pathologe

      PS: Der Zustand der Leiche (die wie ein paar frisch geputzte Gummistiefel quietschte) spielte, wie ich bereits erwähnte, für die Behörden keine Rolle und bereitete den Leichenbestattern einige Freude, doch war er, gelinde gesagt, schon etwas beunruhigend!!

      National Health Service

      Teil eins

      Das Verfahren

      –––

      »Wach auf, Schlafmütze, der Sandmann ist weg ... «

      Lichter und Stimmen, eine Maske und süßer, frischer Sauerstoff in meiner Nase ...

      Und vorher!

      Ich und meine Freundinnen haken uns ein, schmettern »I Will Survive« und verarschen im Club alle Casanovas aus Camberwell mit weißen Socken ...

      Und jetzt tanze ich allein. An einer Kasse. O Gott! Total besoffen. Toller Abend.

      Und ich kämpfe mit dem Schlüssel, der nicht ins Schloss will.

      Und im Auto sitzt ein Mann mit einer Flasche Champagner. Was feiert er! Noch ein Schluck kann bei der Menge an Tequila auch nicht schaden.

      Dann sind wir in der Küche. Ich rieche Seife. Und etwas anderes. Etwas Verzweifeltes.

      Und der Mann steht hinter mir. Meine Knie werden weich. Hätte er mich nicht gehalten, wäre ich auf den Boden geknallt. Bin ich schon so hinüber!

      Seine Hände sind an meinem Kopf, an meinem Hals. Er ist sehr sanft. Er sagt, ich soll mir keine Sorgen machen.

      Und ... nichts ...

      Eins

      Thorne hasste den Gedanken an abgestumpfte Polizisten. Sie waren nutzlos. Wie eingetrocknete Farbe. Er hatte sich einfach ... damit abgefunden. Mit einem Pennbruder, dessen Schädel eingeschlagen und auf dessen Brust ABSCHAUM eingeritzt worden war. Mit einem halben Dutzend Pfadfinderinnen, die dank eines betrunkenen Busfahrers und einer niedrigen Brücke geköpft worden waren. Und noch schlimmeren Sachen. Abgefunden damit, dass er in die Augen von Frauen blickte, die ihre Söhne verloren hatten, sie anschaute, während sie auf ihre Unterlippe bissen und abwesend zum Wasserkessel griffen. Mit all dem hatte sich Thorne abgefunden. Und er hatte sich mit Alison Willetts abgefunden.

      »Eine gehörige Portion Glück, Sir, wirklich.«

      Er hatte sich damit abgefunden, an dieses kleine Wesen in Mädchengestalt, das in einen Kilometer Mull-Spaghetti gewickelt war, wie an einen großen Erfolg zu denken. Eine gehörige Portion Glück. Ein Glückstreffer. Und sie war kaum anwesend. Glück war es vor allem, dass man sie gefunden hatte. »Und, wer hat sie so versaut?« Detective Constable David Holland hatte von Thornes direkter Vorgehensweise gehört, aber auf diese Frage war er so schnell nach seinem Eintreffen am Bett des Mädchens nicht vorbereitet.

      »Na ja, um ehrlich zu sein, Sir, sie passte nicht ins Profil. Ich meine, zum einen lebt sie noch, und dann ist sie zu jung.«

      »Das dritte Opfer war erst sechsundzwanzig.«

      »Ja, ich weiß, aber schauen Sie doch mal hin.«

      Das tat er. Vierundzwanzig und hilflos wie ein Kind.

      »Am Anfang war das nur eine Vermissten-Geschichte, bis die Kollegen vor Ort ihren Freund auftrieben.« Thorne hob eine Augenbraue.

      Holland griff instinktiv zu seinem Notizbuch. »Äh ... Tim Hinnegan. Man könnte ihn als eine Art nächsten Angehörigen bezeichnen. Ich habe eine Adresse. Er müsste später vorbeikommen. Scheint jeden Tag hier zu sein. Sie sind seit achtzehn Monaten zusammen — sie zog vor zwei Jahren von Newcastle hierher und trat eine Stelle als Kindergärtnerin an.« Holland schloss sein Notizbuch und blickte seinen Boss an, der immer noch auf Alison Willetts hinunterschaute. Ob Thorne wusste, dass er von den anderen aus seinem Team »Stehaufmännchen« genannt wurde? Es war nicht schwer zu erkennen, warum. Thorne war ... wie groß? Einsneunundsechzig? Einssiebzig? Doch sein tief liegender Schwerpunkt und seine ... Breite ließen vermuten, dass es schwer sein würde, ihn ins Schwanken zu bringen. In seinen Augen war etwas, das Holland sagte, dass er bestimmt nicht umkippen würde.

      Schon sein Vater hatte Polizisten wie Thorne gekannt, doch Thorne war der erste von der Sorte, mit dem Holland zusammenarbeitete. Er hielt es für besser, sein Notizbuch noch nicht wegzustecken. Das Stehaufmännchen sah aus, als hätte es noch mehr Fragen auf Lager. Und der Mistkerl hatte so eine komische Art, diese Fragen zu stellen, ohne richtig den Mund aufzumachen.

      »Ja, sie geht also nach einer Junggesellinnenabschiedsparty nachts nach Hause ... äh, vor einer Woche, am Dienstag ... und landet vor der Notaufnahme des Royal London Hospital.«

      Thorne zuckte zusammen. Er kannte das Krankenhaus. Die Erinnerung an die Schmerzen nach seiner Leistenbruchoperation vor sechs Monaten war