Der böse Trieb. Alfred Bodenheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfred Bodenheimer
Издательство: Bookwire
Серия: Red Eye
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311702238
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       Berufsjuden, meinen Sie. Und Anschel Fink ist also auch ein Mussar-Vertreter?

       Ja, und wie. Ich meine, der kennt ja auch die ganzen Schriften von Salanter und seinen Adepten. War jahrelang in der Jeschiwa. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich da eingeführt hat. Ich war schon kurz davor, alles fahren zu lassen. Diese Salbadereien von Kletzki und Konsorten, das kotzt einen ja nur noch an.

       Herr Ehrenreich, nun wollen wir doch aber versuchen, in Richtung Tschuwa zu gehen. Es ist Anfang Elul. Deswegen sind Sie doch hier.

       Sehen Sie, deswegen verehre ich Sie, Herr Rabbiner. Sie lassen sich nie von Ihren Emotionen forttragen.

       Wenn Sie wüssten, Herr Ehrenreich, wenn Sie wüssten!

      3

      Es dauerte bis Montag, über eine Woche nach seinem Tod, bis Viktor Ehrenreich zu Grabe getragen werden konnte. Rabbiner Bunem Kletzki strich unentschlossen auf dem Friedhof herum, immer den Eindruck erweckend, er habe hier oder da noch dringend etwas zu erledigen, mit dem Gärtner zu reden, einen Schrank in der Abdankungshalle auf seinen Inhalt zu prüfen und so weiter. Sonja hatte ihn einfach ignoriert. Dennoch konnte sie ihm insgeheim dankbar sein; es waren so wenige Leute anwesend, dass ohne ihn kein Minjan zustande gekommen wäre, um den Kaddisch für den Verstorbenen zu beten.

      Sonja kam Klein vor, als stehe sie unter Medikamenteneinfluss. Sie strömte eine Gelassenheit, ja beinahe Heiterkeit aus, die ihn befremdete. Anders als an dem Abend, als er sie trostlos zu Hause vorgefunden und dann wieder zurückgelassen hatte, wirkte sie nun geradezu elegant. Sie trug ein beinahe exquisites Kleid, das durch den obligaten Einriss in Kragenhöhe, den die Tradition von Trauernden forderte, noch eigenartiger wirkte, und wieder den berückenden schwarzen Scheitel, mit dem er sie in Arosa kennengelernt hatte. Natürlich war sie, dem Brauch folgend, ungeschminkt, aber sie schien zugleich den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Leben für sie weiterginge.

      Unter den nichtjüdischen Trauergästen, wohl hauptsächlich ein paar Lehrerkolleginnen und treue Zahnarztpatienten, versuchte Klein jemanden auszumachen, der wie ein Kommissar oder eine Kommissarin aussah. Von Karin Bänziger in Zürich wusste er, dass sie öfter die Beerdigung von Mordopfern besuchte, weil sie sich Aufschluss über die Tat erhoffte, aber wer konnte wissen, ob das die hiesige Polizei ebenso hielt?

      Das einzige ihm bekannte Gesicht außer Sonja und Kletzki war Anschel Fink. Als Fink in die Abdankungshalle trat, gaben sie einander gemessen Handzeichen. Fink hatte angeboten, ihn von Zürich mit dem Wagen mitzunehmen, aber Klein hatte es vorgezogen, mit der Bahn zu kommen und sich unterwegs nochmals auf die Trauerrede zu konzentrieren. Viktors Tod, sein gewaltsamer, schrecklicher und früher Tod ließ ihn nicht los. Das Anhören der Gesprächsaufnahmen in den letzten Tagen, oder zumindest einiger von ihnen, hatte ihn noch zusätzlich mitgenommen. Es war irgendwie beklemmender, die Stimme eines Verstorbenen zu hören, als sein Bild zu sehen. So viele Details ließen sich aus der Stimme heraushören, Zärtlichkeit, Angst, Trauer, Freude, dass es Klein vorgekommen war, als säße Viktor tatsächlich wieder vor ihm. Er hatte selten so lange gebraucht, um eine Totenrede vorzubereiten. Darauf, Sonja nach weiteren Details von Viktors Leben zu fragen, hatte er verzichtet. Die Aufnahmen lieferten ihm so viel Information, dass Klein eher überlegen musste, was er verschweigen, als was er erzählen sollte.

      Als er neben dem aufgebahrten Sarg stand, die kleine Trauergemeinde zu Füßen des kleinen Stehpults sitzend, steckte er seine Notizen ein und sprach frei.

      »Wir sind hier zusammengekommen, um uns von einem außergewöhnlichen Menschen zu verabschieden, der leider auf verachtenswerte Weise ums Leben gebracht worden ist. Viktor Ehrenreich, in St. Petersburg geboren, in Berlin aufgewachsen und hier an der Grenze des Schwarzwalds ansässig geworden, war ein Mann, der immer genau wusste, was er wollte – und der das auch tat. Er wollte, wie seine Eltern es sich von ihm erhofften, ein erfolgreicher Akademiker werden und besaß am Ende seines Lebens eine gut gehende Zahnarztpraxis. Er wollte um jeden Preis seine geliebte Sonja heiraten und mit ihr leben, und er hat, von der geografischen Verschiebung von Berlin in ihre Heimatregion Süddeutschland bis hin zum gemeinsam gegangenen Weg zum Glauben alles getan, damit diese Liebe sich erfüllen konnte. Er wollte aber auch mehr tun, als nur dieses doch sehr behagliche Leben zu genießen, und so fuhr er seit einigen Jahren, durch Vermittlung seines Freundes Anschel Fink, jährlich für einige Wochen in den Kongo, um dort Menschen zahnärztlich zu behandeln, die sonst nie in den Genuss einer so teuren fachmännischen Pflege gekommen wären.

      Viktor hatte sich schon vor einiger Zeit für die Mussar-Bewegung zu interessieren begonnen, die sich der ethischen inneren Aufrichtung der Menschen widmet. Alles Oberflächliche war ihm zuwider, und der Kampf um das Beste in ihm selbst entsprach ganz und gar seinem Wesen. Jedes Jahr um diese Jahreszeit, zu Beginn des Monats Elul, suchte er mich in Zürich auf, und wir führten ein sogenanntes Seelengespräch, in dem er sich mir öffnete und Einblick in seine vielseitige, sensible Seele gewährte. Das diesjährige Gespräch fand nicht mehr statt. Umsonst wartete ich heute vor einer Woche auf ihn, er antwortete nicht auf meine Anrufe – sie kamen zu spät.«

      Unvermittelt stiegen Klein Tränen in die Augen. Er stammelte noch ein paar Sätze darüber, woran sich die trauernde Gattin aufrichten sollte, dass das jüdische Volk einen großartigen Fürsprecher in der jenseitigen Welt gefunden habe, und beendete die Rede ziemlich abrupt.

      Er blickte in die Runde der Anwesenden. Kletzki konnte sich einer verächtlichen Grimasse nicht enthalten, während Sonja, die eine Sonnenbrille trug, ihn kurz anlächelte und dann das Gesicht senkte. Anschel Fink saß mit der Hand am Kinn versonnen nickend da. Klein sprach die Totengebete, danach folgte die Gruppe dem Sarg zum ausgehobenen Grab. Wie fast jedes Mal verursachte das Rumpeln des Sargs, der ins Grab gelassen wurde, bei Klein einen kurzen Schauer. Er half das Grab zuzuschaufeln, geradezu hektisch stieß er die Schaufel Mal für Mal in den aufgeschütteten Erdhügel und kippte sie über dem ausgehobenen Rechteck aus. Als die locker aufgeschüttete Erde bis zur Ebene des Bodens reichte, legte er das Werkzeug keuchend weg, wischte sich die Stirn ab und begann den Kaddisch zu rezitieren, den sonst für Viktor keiner gesagt hätte. Er hatte mitbekommen, dass Kletzki taktlos genug war, Sonja vor dem Herunterlassen des Sargs noch zuzuraunen, dass auf diesem Friedhof Frauen das Kaddischsagen verboten sei. Als hätte Sonja überhaupt solche Aspirationen gehabt.

      Als Klein sich umdrehte, sah er, dass von Sonja jede Ruhe abgefallen war. Eine Frau stand nun bei ihr, etwa in ihrem Alter, ebenfalls mit dunkler Brille, die sie stützte und ihr mit der Hand sanft über das künstliche Haar fuhr. Die Trauergäste standen unentschlossen herum, die meisten schienen kondolieren zu wollen, obwohl das nach jüdischem Brauch nicht vorgesehen war, aber sie trauten sich nicht an die geradezu krampfhaft geschüttelte Sonja heran, die immer tiefer in den Armen der anderen Frau versank. Ein Mann, offenbar der Partner dieser Frau, stand in geringer Entfernung der beiden und blickte um sich.

      Anschel Fink trat zu Klein.

      »Ein schöner Hesped, wenn man das sagen darf. Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie mich erwähnt haben.«

      »Sie haben Viktor geholfen, in seinem Judentum Sinn zu finden.«

      »Die Leute im Gesundheitszentrum von Lubumbashi werden ihn vermissen. Die haben ihn geliebt.«

      Er machte eine kurze, pietätvolle Pause.

      »Übrigens: Wenn ich Sie schon nicht herfahren durfte, kann ich Sie wenigstens nach Zürich mit zurücknehmen?«

      Klein zögerte einen Augenblick. Eigentlich war er gerne alleine unterwegs, er hatte interessante Lektüre dabei, der er sich nun, da der Druck der bevorstehenden Beerdigung nicht mehr auf ihm lastete, gerne gewidmet hätte. Aber er wollte nicht unfreundlich sein, und davon abgesehen war die Zeitersparnis tatsächlich beträchtlich. Also willigte er ein.

      Hinter Fink hatte sich diskret ein korpulenter Herr in kariertem Hemd und olivgrüner Sommerwindjacke aufgestellt, offensichtlich mit dem Wunsch, Klein anzusprechen. Fink bemerkte es und trat mit einem Lächeln zur Seite.

      »Ich warte beim Ausgang«, sagte er.

      »Ja,