Rosemarie versucht, wieder in Frankfurt, ihren Körper zu Geld zu machen. Als Tischdame zieht sie amerikanischen Soldaten das Geld für überteuerte Drinks aus der Tasche und regelmäßig lässt sie sich nun für Sex bezahlen. Sie wäre vielleicht gern noch was anderes geworden, was Bewerbungen als Mannequin dokumentierten und sie hatte auch einen diesbezüglichen Kurs besucht. Ihre derben Manieren, die arge Lese- und Rechtschreibschwäche und den breiten Eifel-Dialekt schliff sie in Kursen für Mannequins und gutes Benehmen zurecht. Zum bemühten Hochdeutsch kamen ein paar Worte Englisch und Französisch, man weiß ja nie, wer und was kommt. Stundenlang blockierte sie das Gemeinschaftsbad ihrer Pension am Stadtrand und ging anschließend in hochgeschlitzten Kleidern, glänzenden Nylons, hochhackigen Schuhen und Pudel Joe auf dem Arm auf Frankfurts Prachtboulevard im Bahnhofsviertel schaulaufen.
Rosemarie Nitribitt war der lebende Beweis dafür, dass das Laster mitten unter ihnen war. Zwischen ihren Heimaufenthalten tauchte sie immer wieder in Frankfurt am Main ab und träumte im Schatten von Bankenbauten und gen Himmel wachsenden Häusern von Geld und Ansehen. Einer Kollegin aus dem Milieu sagte Nitribitt, sie wolle eine reiche, anerkannte Ehefrau werden und einen großen Salon führen. Eine Weile arbeitete sie als Hausmädchen bei einer Bäckersfamilie, in einem Familiencafé und auf einer Hühnerfarm. Das meiste Geld verdiente die unbelehrbare Schulabbrecherin aber auf dem Strich.
„Keineswegs besonders attraktiv“ fand der Journalist Erich Kuby die Nitribitt, die postum in dessen Buch als „Des deutschen Wunders liebstes Kind“ auferstand. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meinte später gnadenlos, „ihr durchschnittliches Gesicht mit der kurzen, etwas plumpen Nase und der leicht zynisch geschürzten Oberlippe wäre hinter keinem Ladentisch und keiner Ausschanktheke aufgefallen.“
Für Frauen gibt es in der Wirtschaftsmetropole nicht allzu viele Möglichkeiten, am Aufschwung teilzunehmen. Die verheiratete Frau arbeitet nicht, bleibt also nur ein Job als Sekretärin oder Verkäuferin. Rosemarie entschließt sich also, eine der 1200 Prostituierten Frankfurts zu sein.
Auf einer Polizeifoto von 1951 wirkt die damals 18-Jährige wirklich kein bisschen glamourös, eher mausgrau, aschfahl und sturzunglücklich. Aber Rosemarie Nitribitt mauserte sich. Wenn schon Hure, dann wollte sie keine billige sein. Sobald Nitribitt als volljährig galt und offiziell keinen Vormund mehr brauchte, erfand sie sich nagelneu. Den Aufstieg der Nitribitt kann man sehr gut anhand der Statussymbole verfolgen, mit denen sie sich stückweise aufwertete, offen kokettierte und klarstellte: Ich bin nicht für jedermann zu haben.
Schon der Teenager Rosemarie versuchte, seine ärmliche, erbärmliche Herkunft zu überspielen. In einer der wenigen stabilen Phasen ihrer Jugend entstand ein Foto, auf der sie in einem figurbetonten Kostüm, mit Schirm und breitkrempigem Hut als Requisiten die Grande Dame mimt. Anfangs steckte Nitribitt jeden Cent in ihre Inszenierung als mondäne Mätresse. Wenig Geld gab sie für Essen aus.
Auch wenn Ehebruch noch offiziell unter Strafe steht, ist das kein Hinderungsgrund für Männer, die es sich leisten können, sich im Nachtleben der Stadt zu amüsieren. Rosemarie fand sehr schnell Kontakt zu höheren Kreisen, weil sie eine gute Gesprächspartnerin war. Sie konnte zuhören und sich durchaus kultiviert unterhalten.
Ein wichtiges Statussymbol war in dieser Zeit das Auto. In Frankfurt findet jährlich die internationale Automobilausstellung statt. Die Menschen bestaunen Wagen, die die meisten sich gar nicht leisten können. Rosemarie aber schon.
Ihr größter Coup aber war also ein Auto. Bevor es ihr Markenzeichen wurde, bedeutete das Auto für Nitribitt die ultimative Freiheit. Darin entkam sie dem Rotlichtmilieu, machte sich unabhängig von einem Zuhälter. Nitribitt stand nicht am Bordstein und wartete auf vorbeifahrende Freier. Das „Rehlein“, so einer ihrer Kosenamen, ging selbst auf die Jagd.
Anfangs fuhr Nitribitt einen Ford, das Fahrzeug der unteren Mittelklasse. Nachdem sie ihren Taunus 12 M zu Schrott gefahren hatte, schenkte ein türkischer Unternehmer ihr 1954 das Geld für einen Opel Kapitän. Man gab ihr den Namen „Käpt’n Lady“. Eine Lady! Damals ein außergewöhnlicher Besitz für eine Frau Anfang der 21. Mit dem noblen 6-Zylinder tourt die Prostituierte durch Frankfurt und Umgebung auf der Suche nach Kundschaft.
In den fünfziger Jahren, als Westdeutschlands Wirtschaft wieder Fahrt aufnahm, symbolisierte vor allem das Auto den Wiederaufstieg des Landes. Der Mercedes-Stern war die Krönung dieses Symbols. Schnittige Karosserien der Oberklasse . Bereits Mitte 1956 erwarb Rosemarie Nitribitt den berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL mit roten Ledersitzen, für schlappe 18 000 DM, was sie sich in der Frankfurter Mercedes-Zentrale mit vielen Sonderwünschen bestellt und bar bezahlt hat und mit dem sie in Frankfurt sehr viel Aufsehen erregte und der ihr Markenzeichen wurde. Der Wagen ist geradezu eine Provokation. Einen „Nitribitt“ nannte der Volksmund das 190er Cabrio. Ein deutscher Arbeitnehmer verdient zu dieser Zeit im Schnitt 6 000 DM brutto im Jahr. Bis heute ist der Name von Rosemarie Nitribitt mit dem Modell von Mercedes verknüpft. Am 18. Mai 1956 registrierte die Kfz-Zulassung Frankfurt ein schwarzes Mercedes Cabrio 190 SL unter dem Kennzeichen H 70 6425. Chefärzte fuhren damals VW Käfer.
Nun ging es mit diesem Glanzstück von Auto auf Kundenfang. Trotz seiner sportlichen Erscheinung brachte es der kleine Roadster gerade mal auf 170 km/h, aber Nitribitt schaltete meistens ohnehin nur in den ersten oder zweiten Gang. Zur Kundenakquise fuhr sie langsam um den noblen „Frankfurter Hof“ herum oder an anderen Luxusschlitten vorbei. Deutsche Industrielle und ausländische Geschäftsleute passte sie am Flughafen Frankfurt ab. Bei schönem Wetter mit offenem Verdeck, oft mit einer dunklen Brille, manchmal mit Lichthupe. Sie pflegt ihre Prostitution ganz öffentlich und wird zu einer Sehenswürdigkeit der Großstadt. Sie blieb dann auch manchmal vor den „Frankfurter Hof“ stehen, täuschte irgendeine Panne vor, klappt die Motorhaube hoch und schaute unschuldig drein. Nun hielten gut betuchte Herren an und man kam ins Gespräch. So und ähnlich schaffte sie es in wenigen Jahren zur Edelprostituierten. Ein Frau, über die Frankfurt spricht und die ganz offensichtlich Männer zu faszinieren weiß. Diese zahlten bei ihr, je nach Einkommen, zwischen 50 und 250 DM für ein intimes Treffen. Sie hat am Tag zwischen sechs und neun Freier gehabt und hat das Geld sehr hart und gnadenlos zu sich selbst verdient.
In die Geschichte ging die Edelprostituierte aber weniger wegen ihres rasanten Untersatzes ein, sondern wegen der feinen Herren, die sie damit abschleppte. Unvergessen machen sie ihr mysteriöser gewaltsamer Tod im Jahr 1957 und der große Lärm, der ihm folgte. Es war, als hätte ihre Ermordung der Ära Adenauer jäh die Maske von ihrem zweiten Gesicht gerissen.
Im September 1955 zog Nitribitt, die längst mehr als 4000 DM im Monat einnahm, in die Stiftstrasse 36. Apartment Nr. 41, 4. Stock. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 75 Quadratmeter, Parkettboden und Fußbodenheizung. Wer an der Türsprechanlage ihren Codenamen „Rebecca“ nannte, dem drückte sie die Tür auf. Im Telefonbuch bezeichnet sie sich als Mannequin, ihren Kindheitstraum. So stand die 1 Meter 60 kleine Prostituierte als nun zwischen einer Textilien- und Lederbekleidung und zwei Ärzten. Nitribitts Täuschung war zuletzt so vollendet, dass sie sich der Maklerfirma „Dröll und Scheuermann“, die über jeden neuen Mieter umfassende Erkundigungen einholte, als selbständiges Mannequin mit einem Monatseinkommen von 800 DM „einwandfrei“ verkaufte.
Dann taucht ein neuer Name in Rosemaries Leben auf. Heinz Christian Pohlmann, ein Handelsvertreter, geboren am 21. Mai 1921 in Wuppertal. Er wird später für die Polizei der Hauptverdächtigte sein. Der Mann ist mehrfach vorbestraft und immer in Geldnot.
Heinz Pohlmann lud sie eines Tages zum Tee in seine Junggesellenwohnung ein und blieb ein „platonischer Freund“. Das homosexuelle „Pohlmännchen“, stellte Nitribitt einmal resigniert fest, konnte ihre „Liebe nicht erwidern“. Wie es genau zu der Bekanntschaft kommt, bleibt unklar. Pohlmann bekam von Rosemarie kleinere Aufträge, kümmerte sich um das Auto, wartete in der Küche, wenn ihr die Kundschaft nicht ganz geheuer vorkam, hat den Pudel ausgeführt und hatte die Fähigkeit, gut Reisbrei zu kochen. Das war eines der Gerichte, die Rosemarie regelmäßig aß und er kochte auch den letzten Reisbrei, der dann bei der Obduktion in der Rechtsmedizin im Magen der Toten noch vorgefunden wurde.