Auch wenn mich die Superlative des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht die Bohne interessierten, war ich dennoch über die gigantischen Mengen erstaunt. So viel Gemüse, das konnte mich gut und gerne gleich mehrfach traumatisieren. Ein Glück, dass meine Frau Stefanie das nicht mitbekam. Sie würde nicht aufhören, bis sie alle 140 Sorten Gemüse zu Hause gekocht und probiert hatte, was ich bei meiner Gemüseallergie garantiert nicht überleben würde.
»Kann man die neuen Hallen besichtigen?« KPD versuchte weiterhin hartnäckig, wahrgenommen zu werden. Er machte gerade die Erfahrung seines Lebens. Inzwischen hatte ich bemerkt, dass Christian Deyerling meinen Chef bewusst auflaufen ließ. Wenigstens einer, der wusste, was sich gehörte, und vor KPD nicht den Duckmäuser spielte.
»Ja, Sie können sich einer der Führungen anschließen, die alle paar Minuten vorne am Haupteingang beginnen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er sofort wieder Augenkontakt zu mir auf. »Wir haben unsere Kühlkapazitäten mit dem Neubau von 23.000 Kubikmeter deutlich aufgestockt. Damit können wir in Zukunft viel flexibler im Markt reagieren. Das Geschäft mit Obst und Gemüse war schon immer knallhart.«
»Ich weiß«, sagte ich, weil ich zu diesem Thema kürzlich einen Artikel in der RHEINPFALZ gelesen hatte. »Der Einzelhandel bestimmt den Markt, habe ich gelesen.«
»Zum Teil stimmt das schon«, bestätigte Deyerling. »Wenige große Abnehmer zeichnen für den größten Teil der Warennachfrage verantwortlich. Das ist für uns aber kein Problem. Mit unserem neuen Workflow werden wir zukünftig einen noch smarteren Ablauf haben, sozusagen das modernste Gemüsehandling Europas. Die Anlieferer bringen die Ware direkt in einen gekühlten Raum. Das ist ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal, auch wenn alles sehr komplex ist.«
»Da möchte ich nicht mit Ihnen tauschen«, sagte ich ehrlich. »Bei uns ist es einfacher, wir brauchen zur Verbrecherjagd keine Kühlkapazitäten.«
Wir lachten beide über meinen Witz. Deyerling schaute auf die Uhr. »Ich muss leider rüber, weil gleich die Eröffnungszeremonie beginnt. Wir sind sowieso etwas spät dran, weil vorhin ein unbekannter Erzeuger ohne vorherige Absprache seinen beladenen Hänger vor eine der Hallen gestellt hat, was eigentlich nicht zulässig ist.« Er rollte mit den Augen. »Außerdem versperrt der Hänger einen der Fluchtwege. Ich möchte schließlich keinen Ärger mit Ihrem Chef bekommen. Der ist mir sowieso ein bisschen zu penetrant.«
»Um solche Kleinigkeiten wie Fluchtwege kümmert sich KPD nicht«, sagte ich.
»KPD, wer ist KPD?«, fragte Deyerling verwirrt.
Ich zögerte nicht, meinem neuen Freund die Wahrheit zu sagen. »Das ist Diefenbachs Spitzname, wegen seiner Initialen. Das weiß er aber nicht.«
»Von mir erfährt er nichts«, sagte Deyerling verschwörerisch und lächelte. »Ich hoffe, wir sehen uns nachher noch mal.«
Mein Chef hatte längst aufgegeben und war verschwunden. Ich folgte den anderen Gästen in eine riesige bestuhlte Halle. Seitlich kämpfte ich mich vor bis zur Bühne und scannte die erste Reihe ab. Dann die zweite. Alle Stühle waren besetzt, keiner von KPD. Mir ging es so gut wie lange nicht mehr. Dabei merkte ich, dass meine Cola leer war. Trotz der frühen Uhrzeit würde ich mir jetzt zur Feier des Tages ein Bier gönnen. Und zwar explizit kein alkoholfreies. In der angrenzenden Halle hatte ich den Bierstand einer hiesigen Brauerei bereits im Visier, als ich erneut angesprochen wurde.
Kapitel 2
Fast tödliches Gemüse
»Herr Palzki? Da sind Sie ja! Ich habe Sie überall gesucht.«
Eine etwa 45-jährige Frau sah mich vorwurfsvoll an. »Wir waren doch vor einer halben Stunde am Bratwurststand verabredet.«
»Bratwurst?« Meine Magensäure poppte auf. »Hier gibt’s Bratwurst?«
»Natürlich gibt’s hier Bratwurst«, sagte die Frau verärgert. »Denken Sie, an der Eröffnungsfeier gibt’s nur Gemüse? Da kennen Sie uns Landwirte aber schlecht, Herr Palzki. Eine zünftige Schlachtplatte oder zumindest einen Pfälzer Saumagen wissen auch wir nicht zu verachten. Manche der Genossen haben durchaus eine Tierhaltung parallel zum Gemüseanbau.«
»Tut mir leid, ich weiß nichts von unserer Verabredung. Kann es sein, dass Sie mich verwechseln?«
»Garantiert nicht«, wehrte sie ab. »Sie sind Reiner Palzki von der Schifferstadter Polizei. Sie hatten die Ermittlungen bei den Grumbeeren geführt, wissen Sie noch?«
»Das stimmt«, entgegnete ich, »bei Kartoffel-Kuhn in Frankenthal. Die vertreiben die Grumbeeren aber selbst. Ist das so etwas wie ein Konkurrent zum Pfalzmarkt?«
Die Dame legte ihr zorniges Gesicht ab und lächelte. »Sie haben nicht wirklich viel Ahnung von der Branche, stimmt’s? Kartoffeln und Zwiebeln werden schon immer getrennt vermarktet. Im Pfalzmarkt gibt es sonst alles, nur eben keine Grumbeeren und keine Zwiebeln. Das hat irgendwelche historischen Gründe, so genau weiß ich das auch nicht. Ich bin schließlich Landwirtin und keine Historikerin.«
»Und warum waren wir verabredet?« Ich war inzwischen sehr neugierig geworden, außerdem war ich heiß auf ein Bier und eine Bratwurst.
»Sagen Sie mal, haben Sie mein E-Mail tatsächlich nicht gelesen? Kann bei einer so wichtigen Behörde wie bei Ihnen so etwas untergehen?« Sie sah mich zweifelnd an.
Ich tat erschrocken. »E-Mail? Das muss bestimmt mein Kollege verpennt haben. Sie müssen wissen, dass wir gerade unsere EDV neu aufsetzen, was wegen der Datenschutzbestimmungen alles andere als einfach ist. Außerdem sind wir arbeitsmäßig zurzeit sehr überlastet. Manchmal weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Und zu allem Überdruss verlangte mein Chef heute von mir, dass ich ihn auf diese Veranstaltung begleite. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich hier soll.«
»EDV.« Sie schüttelte den Kopf. »Genauso stelle ich mir eine Beamtenstube vor. EDV, diesen Begriff habe ich das letzte Mal in meiner Jugend gehört.«
»Die IT meinte ich«, verbesserte ich und fragte zwecks Ablenkungsmanöver: »Wer sind Sie eigentlich? Sollte ich Sie kennen?«
»Wir sind uns bisher noch nicht begegnet, Herr Palzki. Mein Name ist Heidelinde Rustik. Ich bin Landwirtin und eines der Genossenschaftsmitglieder des Pfalzmarkts. Mir haben Sie es zu verdanken, dass Sie Herr Diefenbach zu der Eröffnungsfeier mitgenommen hat.«
»Ihnen?«, fragte ich erstaunt. »Kennen Sie KPD, äh, Herrn Diefenbach?«
»Ich habe ihn noch nie gesehen. Im Vorstandsbüro von Herrn Friedrich habe ich zufällig mitbekommen, dass der Dienststellenleiter der Schifferstadter Polizei eingeladen wurde. Zu Hause berichtete ich meiner Tochter Sonja davon, und die hatte die entscheidende Idee. Sie liest in ihrer Freizeit gerne Kriminalromane, insbesondere die, die in unserer Region spielen. Daher machte sie den Vorschlag, Sie einzuladen, Herr Palzki.«
»Und warum das Ganze?«
»Weil Sie mir ein fähiger Beamter zu sein scheinen. Anders als Ihr Chef. Ich weiß das natürlich nur von meiner Tochter. Da die Einladungen zu der Feier bereits verschickt waren, suchte ich im Internet die Kontaktdaten von Herrn Diefenbach heraus und ersuchte ihn möglichst förmlich, Sie mitzubringen. Kann sein, dass ich mich dabei ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt habe, aber der Vorstand des Pfalzmarkts muss ja nicht alles wissen. Ich hoffe, dass Sie mich nicht verraten, Herr Palzki.«
Nun wusste ich zwar, warum mich KPD mitgeschleppt hatte, der eigentliche Grund war immer noch rätselhaft. Ich vermutete, dass es mal wieder war wie so häufig: Ein Leser, in diesem Fall eine Leserin, konnte Fiktion und Realität nicht auseinanderhalten. Zugegeben, seit Dietmar Becker in seinen Pseudokrimis immer mehr lebende reale Personen auftreten ließ und die Handlungsorte überaus realistisch beschrieb, war die Unterscheidung nicht immer ganz einfach. »Sie wollen mich in meiner Eigenschaft als Polizeibeamter sprechen? Warum haben Sie sich nicht einfach direkt gemeldet? Wir haben unsere Dienststelle täglich geöffnet, für dringende Fälle auch am Wochenende.«
Sie druckste ein wenig herum. »Ich will nicht, dass das an die Öffentlichkeit