Anhand des vorhandenen Materials – Berichte von Betroffenen und Studien – Autismus zu erklären, kann daher nur fragmentarisch gelingen. So habe ich nach einem anderen Weg gesucht, der zwar nicht mit wissenschaftlichen Belegen überzeugen kann, dafür aber dem Bedürfnis der Betroffenen und ihrer Begleitpersonen, tatsächlich verstanden zu werden beziehungsweise zu verstehen, wohl näherkommen dürfte. Ich bemühe mich darum, die Lebenswelten der Menschen zu verstehen und hier den gemeinsamen Nenner der von Autismus betroffenen Menschen zu finden.
Dieses Gemeinsame, mit dem alle Menschen mit Autismus zwar individuell, aber dennoch kollektiv konfrontiert sind, ist ihre Art der Selbstwahrnehmung. Auf diese Weise lassen sich dann auch Widersprüche miteinander verbinden und verstehen. Wenn von Selbstwahrnehmung die Rede ist, dann ist es notwendig, dass wir einen gemeinsamen Nenner der Begriffe finden, damit nicht neue Missverständnisse entstehen. Daher will ich kurz schildern wie die Begriffe „Ich“, „Selbst“ und „Ego“ in dieser Betrachtung zu verstehen sind:
Mit „Ich“ bezeichne ich das eigene Selbst und verwende es immer dort, wo ich im Sinne von Ich-im Unterschied zu einem anderen Ich (Du) auf mich selbst (objektiv) hinweisen möchte. Für mich als Menschen mit Autismus ist „Ich“ nicht ein gefühltes Selbst, sondern es ist lediglich als erste Person Singular im Sinne des Personalpronomens zu verstehen.
Mit „Selbst“ meine ich ein einheitliches, konsistent fühlendes, denkendes und handelndes Wesen. Es hat die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in Bezug auf Empfindungen und ist eine Verstärkung zur Reflexion und Betonung des Begriffs „Ich“.
„Ego“ – das lateinische Wort bedeutet „Ich“ und ist nicht mit Egoismus gleichzusetzen.
Wie es mir möglich ist, diese Art der „Beobachtung des Autismus“ zu betreiben, hat mit meiner eigenen autistischen Wahrnehmung zu tun. So wie Temple Grandin, die als Autistin eine Expertin für Tierhaltung wurde, sich ganz in die Perspektive von Rindern hineinversetzen kann, so kann ich mich ganz in die Perspektive unterschiedlicher Lebenswelten von Menschen (und Tieren) hineinversetzen. Was ich dabei erlebe, sind nicht in erster Linie gedankliche, also kognitive Schlussfolgerungen. Es ist so, dass ich die unterschiedlichen Ebenen des Menschen in einer Art Struktur bildlich wahrnehme. Die große Herausforderung besteht darin, diese Bilder in Worte zu übersetzen. Früher habe ich nur Menschen ohne Autismus auf diese Weise gescannt, heute tue ich es vor allem auch bei Menschen mit Autismus. Die erhaltenen Bilder lege ich wie „transparente Landkarten“ übereinander und vergleiche die Strukturen. Anhand der Abweichungen kann ich versuchen, die unterschiedlichen Lebens- und Wahrnehmungswelten zu vergleichen, um so zu verstehen, wo die Missverständnisse entstehen können. Die Art, wie Grandin „methodisch“ bei der Konstruktion von Viehzuchtanlagen vorgeht, kann mancher Wissenschaftler als unwissenschaftlich bezeichnen. Auch meine Art der Arbeit ist in diesem Sinne nicht wissenschaftlich, sondern phänomenologisch. Ob meine Wahrnehmung tatsächlich zutrifft, kann nur in der Praxis festgestellt werden.
Die Missverständnisse sind nicht einseitig. Bis vor Kurzem bin ich davon ausgegangen, dass alle Menschen diese „Fähigkeit“ der Wahrnehmung haben müssen. Wenn dann „Ergebnisse“ geäußert wurden, die meinen eigenen „Erkenntnissen“ erheblich widersprachen, verlor ich immer wieder die Geduld. Zum Beispiel war für mich nicht verständlich, wie sehr Begleiter und Begleiterinnen in ihren Handlungen bei Menschen mit Unterstützungsbedarf ihre eigenen Emotionen, Gefühle von Zu- und Abneigung hineinfließen lassen. Andererseits war meine akribische Sachlichkeit für viele Menschen ein Zeichen von fehlender Empathie.
Das Ziel dieser Abhandlung ist, zu erkennen, dass alle Menschen grundsätzlich dieselben Bedürfnisse haben: Sie wollen geliebt, verstanden, respektiert und in ihrem So-Sein ohne Wenn und Aber angenommen werden.
Autismus, ein individueller Lebensweg
Jeder Mensch geht seinen ganz eigenen, individuellen Lebensweg und davon sind Menschen mit Autismus nicht ausgeschlossen, auch sie haben einen biographischen Lebenslauf und eine stetige Entwicklung. Daher ändert sich die Wahrnehmung im Laufe eines Lebens teilweise sogar erheblich.
Wenn es darum geht, wie Menschen mit Autismus ihre Umwelt erleben, dann handelt es sich immer auch um Sinneswahrnehmung und ganz besonders auch um die Selbstwahrnehmung. Und die Selbstwahrnehmung von vielen Menschen mit Autismus ist genau der Grund, warum ich für diese Betrachtung den Titel Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein gewählt habe.
Die Fragen, denen ich in diesem Buch nachgehen möchte, sind folgende:
• Warum ist es so schwierig, Autismus zu verstehen?
• Was sind alternative, „Autismus-geeignete“ Kommuni kationsmodelle?
• Wie sieht eine „Autismus-freundliche“ Begleitung aus?
• Darf Autismus sein?
So genannte autistische Symptome wie etwa selbstverletzendes Verhalten, Schreien, ununterbrochene stereotypische Handlungen sind von außen gesehen unglaublich einschneidend und nicht selten schrecklich mit anzusehen. Da die Erklärung, warum das alles geschieht, meist fehlt, sind Begleitpersonen in solchen Situationen oft überfordert und stehen dem Ganzen ohnmächtig gegenüber. Schon das allein ist ein schreckliches Gefühl. Die schwerwiegendste Folge davon ist aber die, dass diese Verhaltensweisen ohne verständliche Erklärung einen großen Spielraum für Mutmaßungen, Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen öffnen.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich anfühlen muss, als Mensch mit Autismus zu leben und das Leid, den Schmerz, die Angst und Verunsicherung der Menschen um sich herum miterleben zu müssen? Wie fühlt es sich an, als Kind die Verzweiflung der Eltern zu spüren und dabei zu wissen, dass die Eltern meinetwegen und wegen meines Verhaltens verzweifelt sind?
Ein weiteres Problem für Menschen mit Autismus liegt darin, dass sie selten als eigenständige Individuen gesehen werden, sondern einfach als Autist*innen, wie sie im Buch stehen oder in einem Film vorkommen. Erschreckend finde ich, dass seit einiger Zeit das Wort „Autismus“ oder „autistisch“ im Journalismus, aber auch in der Fachliteratur gerne benutzt wird, um Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die ein egoistisches Ziel verfolgen, zu beschreiben. Hier zeigt sich zugespitzt, was ich mit Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen meine.
Niemandem würde es in den Sinn kommen, die heute verbreitete Leseschwäche vieler Menschen als „geistig behindert“ oder eine körperliche Ungeschicklichkeit als „spastisch“ zu bezeichnen. Während bei anderen Formen von Beeinträchtigungen ethische und moralische Zurückhaltung selbstverständlich ist, ist es in Bezug auf Autismus gebräuchlich geworden, Egoismus und rücksichtsloses Handeln mit Autismus gleichzusetzen. Eine solche Pauschalbezeichnung der Gesellschaft auf Kosten von Menschen mit einer Beeinträchtigung sollte unbedingt vermieden werden, denn diese Verknüpfung von Autismus mit gesellschaftlichen Problemen artet schnell in diskriminierende Phantasien in Bezug auf Menschen mit Autismus aus.
Egoismus und Autismus sind sogar Gegensätze, da Menschen mit Autismus oft nicht einmal imstande sind, das Wortpaar Ich-Du (so wie es insbesondere Martin Buber als Ur-Kategorie beschrieben hat, mehr dazu im Kapitel Menschen mit Autismus und ihre Art wahrzunehmen) zu verstehen. Für Buber entsteht das Ich am Du. Egoismus dagegen stellt das Ich ins Zentrum. Das tatsächliche