Stani jedenfalls hasste das laute Treiben, die dicht an dicht stehenden Häuser, die jedem Sonnenstrahl den Einlass verwehrten, den Gestank der Abwässer, die kotigen Wege und die herumhuschenden Ratten, die ihm stets wie stumme Schatten auf dem Fuß folgten. Er hasste die aufdringlichen Rufe der Händler, das rücksichtslose Gedränge, den Lärm der vorbeipreschenden Fuhrwerke – und die Buttenweiber. Beim Anblick der maskierten Frauen mit ihrer stinkenden Fracht drehte es ihm jedes Mal den Magen um. Es gab keinen Tag, an dem er sich nicht zurückwünschte in seine Heimat, sich nicht sehnte nach der wilden Schönheit der Wälder, dem Duft der Sommerwiesen und der ruhig dahinziehenden Donau.
Schon wieder verloren sie sich in einem engwinkeligen Labyrinth schmaler Gassen, aus dem er, davon war er überzeugt, alleine niemals herausfinden würde. Georg jedoch schritt zügig voran, bis er schließlich vor einem bescheidenen Bürgerhaus Halt machte. Er bückte sich und warf kleine Steine gegen die erleuchtete Fensterscheibe im ersten Stock.
Als hätte man sie erwartet, blickte schon nach wenigen Steinwürfen ein bildhübsches Gesicht mit einem strahlenden Lächeln zu ihnen herunter. »Wir kommen gleich.« Die Lippen, die diese Worte formten, schienen Stanislaus, anders als die der Grabennymphe, von unbeschreiblich unschuldiger Süße.
»Stani, wie schaust denn wieder drein! Mach bloß den Mund zu, was sollen die Mädels von dir denken? So kommst nie zum Stich!« Georg schüttelte den Kopf. »Mach mir keine Schand, hörst du! Du bist ein Offizier, da brauchst nichts tun. Die sehen eine Uniform und sind bereit. Wirst sehen, da hast ein leichtes Spiel.«
Die Tür ging auf und zwei zierlich gewachsene Mädchen in hellen Kleidern, den Schal eng um ihre Schultern geschlungen, das Haar unter züchtigen Hauben verborgen, huschten kichernd an ihnen vorbei auf die Gasse.
Stanislaus warf Georg einen fragenden Blick zu. Der zuckte die Achseln, bedeutete ihm aber, den beiden zu folgen. Einige Minuten marschierten sie in überraschend zügigem Tempo hinter den aufgeregt miteinander tuschelnden Mädchen her, als die Größere der beiden plötzlich stehen blieb und sich zu ihnen umdrehte.
»Jetzt kann s’ uns nimmer sehen, Mitzi.« Sie warf den beiden Männern einen koketten Blick aus veilchenblauen Augen zu. »Servas, Georg! Schön, dass du wieder mal bei mir vorbeischaust. Ich hab schon gedacht, du hast mich vergessen.«
»Wie könnt ich dich vergessen!« Georg machte einen Schritt auf sie zu, fasste sie unterm Kinn und – Stanislaus kam aus dem Staunen nicht heraus – küsste sie ungeniert, auf offener Straße, auf den Mund.
»Was für ein sauberes Mädel«, schoss es ihm durch den Kopf, als Stanzi sich aus Georgs Umarmung befreite und ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»Das ist mein Freund Stani«, stellte Georg ihn vor. »Er ist erst seit Kurzem in der Stadt und sucht Anschluss«, fügte er, zu Mitzi gewandt, hinzu, die prompt errötete, was ihrem sonst eher farblosen Gesicht einen gewissen Reiz verlieh.
»Sehr erfreut.«
Der verlegene Knicks, mit dem sie ihn begrüßte, gefiel Stanislaus. Galant bot er ihr seinen Arm an, den sie zögernd ergriff. Angeregt plaudernd die einen, verlegen schweigend die anderen, schlenderten die beiden Paare gemächlich durch die nächtlichen Gassen. Hin und wieder kam ihnen eine Kutsche entgegen, zwei Betrunkene grölten, hielten aber respektvoll Abstand, als sie die Uniformen der beiden Herren erkannten. Als sie schließlich das Vorstadtgasthaus »Zum Wilden Mann« erreichten, schallten ihnen Musik und lautes Gelächter entgegen. Durch die Scheiben beobachteten sie das ausgelassene Treiben, ehe Georg entschlossen die Tür aufstieß. Tatsächlich fanden sie in der überfüllten Stube einen freien Tisch in einer vor neugierigen Blicken geschützten Nische.
Aufatmend ließ sich Stanzi als Erste auf die hölzerne Sitzbank fallen. »Ah, tut das gut. Ich bin schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Die Madame von der Pepperl, bei der ich heute ausg’holfen hab, war besonders nervös. Jeden Mittwochabend eine Einladung, der Herr Baron sagt, sie wird ihn noch ruinieren. Aber sie will unbedingt so berühmt werden wie die von Arnstein. ›Wo kommen wir hin, wenn wir den Juden in Wien neben dem ganzen Geld auch noch den Glamour überlassen‹, hat sie g’sagt.«
Rasch legte Georg ihr einen Finger auf den Mund. »Geh Stanzerl, red net so einen Unsinn. Komm her zu mir und küss mich. Das kannst viel besser.«
Willig schmiegte sie sich an ihn und bot ihm ihre Lippen zum Kuss. Mitzi richtete ihre Augen verlegen zu Boden. Ein Anblick, der Stanislaus so berührte, dass er spontan ihre Hand nahm und küsste. Überrascht sah sie ihn an. Ihr Gesicht hatte von dem Spaziergang eine frische Farbe angenommen, ihre grauen Augen glänzten. Sanft zog er ihr die Haube vom Kopf und strich über ihr glattes flachsblondes Haar. Diesmal senkte sie ihren Blick nicht, sondern sah ihm vertrauensvoll direkt in die Augen, als sein Mund sich dem ihren näherte.
Was für weiche Lippen, schoss ihm durch den Kopf. Dann dachte er gar nichts mehr. Denn zu seinem großen Erstaunen erwies sich Mitzi als wahre Künstlerin. Noch nie hatte ein Kuss ihn dermaßen in Aufregung versetzt. Verlegen räuspernd rückte er von ihr ab.
»Laut ist es hier«, bemerkte er.
Mitzi nickte.
»Bist immer so schweigsam?«, fragte er.
Sie lächelte sanft. »Ja, reden tun eh die anderen. Ich hör lieber zu.«
Zufrieden ließ Stanislaus den Blick über sie gleiten. Wie hatte er die Stanzi bloß hübscher finden können als sie? Diese Mitzi hatte etwas Besonderes, stellte er fest. Und sofort überkam ihn die Lust, sich ihrer geschickten Lippen wieder zu bemächtigen. Bereitwillig erwiderte sie seinen Kuss.
»Na, hörts ihr auf jetzt!«, drang die Stimme seines Freundes an sein Ohr. »Wir wollen Wein bestellen, und wenn ihr euch weiter so aufführts, traut sich die dralle Magd hier gar nicht mehr an unseren Tisch.«
Verlegen lösten sie sich voneinander.
»Recht so!«, nickte Georg. »Der Abend ist noch lang, dazu habt ihr später genug Zeit. Was sagst, Stanzi, wollen wir tanzen?« Soeben hatten ein paar kräftige Männer Tische zur Seite gerückt, um Platz für die Tanzenden zu schaffen.
Begeistert hüpfte das Mädchen auf. »Ja, lass uns tanzen. Diesen neuen, den du so gut kannst, und von dem mir immer schwindlig wird, ich glaub, jetzt spielen sie ihn gerade …«
»Musst denn du ständig so viel reden?«, schalt Georg sie lachend und zog sie hinter sich her.
Stanislaus sah Mitzi fragend an. Die nickte. Zögernd stand er auf. Ein wenig neidisch beobachtete er Georg, der Stanzi derart virtuos über die Tanzfläche bewegte, dass ihre schwarzen Locken nur so flogen. Doch schon presste Mitzi ihren Körper ungeniert an seinen und plötzlich war ihm alles andere egal. Sie passte sich seinem Rhythmus derart geschickt an, dass sich seine Unsicherheit in Luft auflöste.
Völlig außer Atem fanden sie sich nach einem ausgelassenen Galopp am Tisch wieder, um ihren Durst mit Wein zu löschen.
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein passabler Tänzer bist.« Georg prostete ihm zu.
»Ich auch nicht«, grinste Stanislaus und drückte Mitzi fest an sich.
»Schau, schau«, feixte Georg. »Das kann ja noch was werden mit euch beiden.«
»Pass auf, Mitzi, dass er dir nicht die Ehr raubt«, ermahnte Stanzi ihre Freundin mit ernster Miene, der jedoch das Zucken um ihre Mundwinkel nicht entging.
»Bei meiner Ehr«, konterte sie, »so gern hätt ich meine Ehr noch niemandem geschenkt.«
Stanislaus verschluckte sich beinahe. So viel Schlagfertigkeit hatte er seiner schweigsamen Begleiterin gar nicht zugetraut.