OVAL
ELVIA WILK
aus dem Amerikanischen von Julia Wolf
Das vorliegende Werk ist reine Fiktion. Sämtliche Figuren, Organisationen und Handlungen, die in diesem Roman dargestellt werden, sind frei erfunden.
Das Original erschien unter dem Titel Oval
bei Soft Skull Press, New York.
© 2019 by Elvia Wilk
Erste Auflage
© 2020 by Secession Verlag Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Julia Wolf
Lektorat: Christian Ruzicska,
unter Mitarbeit von Stela Knezevic und Jannik Schäfer
Korrektorat: Peter Natter
Typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin
Satz: Marco Stölk, Berlin
Herstellung: Daniel Klotz, Berlin
ISBN 978-3-96639-030-9
eISBN 978-3-96639-031-6
Für meine Freunde
Inhalt
Geraten Menschen, von denen konventioneller Weise angenommen wird, dass sie einander lieben, in Streit, wünschte ich, sie würden zueinander sagen: »Etwas weniger Liebe, bitte, und etwas mehr Anstand.«
Kurt Vonnegut
1
Nach dem Tod übernimmt die Bürokratie. Vorbereitungen für die Beerdigung müssen getroffen, Konten aufgelöst, Versicherungen ausbezahlt werden. Unbezahlte Steuern. Unbeglichene Schuld. Manche Menschen empfinden die Flut an Papierkram als eine zusätzliche, unerträgliche Verantwortung. Anderen hilft der Ansturm, ihre Trauer zu ersticken. Louis, hatte Anja entschieden, gehörte eindeutig zur letzteren Sorte.
Er redete von nichts anderem mehr als Bürokratie. Während er weg war, bestand die einzige Information, die er ihr zukommen ließ, in einer Reihe von Nachrichten, die die logistischen Vorgänge postmortem schilderten: Er war beim Anwalt, schon wieder. Er war beim Kistenpacken. Dann war er unterwegs, mehr Sprite und Kräcker für die Rentner kaufen. Emoji, Emoji. Er gab der Zeitverschiebung die Schuld, dass er keinen Moment fand, um zu telefonieren.
Das letzte Mal hatte sie seine Stimme gehört, als er sie zwei Wochen zuvor aus der Abflughalle des Flughafens Berlin-Brandenburg angerufen hatte, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. Seine Mutter, tot. Seine Stimme hatte so unbekümmert geklungen, dass sie ihn gefragt hatte, ob er Witze machte. Offenbar hatte er einen Flug in die USA gebucht und war von der Arbeit direkt zum Flughafen gefahren – und all das, ohne seine Freundin vorher anzurufen. Anja war sicher, dass er unter Schock stand. Sie war es, die weinend zusammengebrochen war, als er angerufen hatte.
Er hatte ihr erst mitgeteilt, dass er nach Berlin zurückkommen würde, als er schon am Flughafen von Indianapolis war. Eine SMS mit nichts weiter als seiner Ankunftszeit und Herzchen zwischen den Ziffern.
Anja wartete auf ihn, als sein Flieger am frühen Nachmittag landete. Die Ankunftshalle mit ihrer Glasdecke fühlte sich wie ein beengtes Gewächshaus oder das Innere eines leeren Parfumflakons an, in dem ein fauliger Dunst festhing. Um sie herum fielen sich Familienmitglieder in die Arme, Erasmus-Studenten kehrten von ihren Auslandsaufenthalten zurück, Partytouristen ohne Gepäck suchten nach dem Bus, der sie bis kurz vor die Türen eines Clubs bringen würde.
Anja erschrak, wie schlecht Louis aussah, als er aus der Menschenmasse hervortrat. Sein Äußeres stand im Gegensatz zu der Nonchalance seiner Textnachrichten; er sah elend aus. Er machte keine Witze, um seinen Zustand zu überspielen, umarmte sie nur schwach, nahm ihre Hand und folgte ihr zum Taxistand.
Auf der Rückbank des Taxis lehnte er den Kopf an ihre Schulter und zeigte ihr auf dem iPad, von dem er sagte, er hätte es geerbt, ein Spiel, bei dem Früchte durch die Gegend geschleudert wurden. Das Tablet schien der einzige neue Gegenstand zu sein, mit dem er heimgekehrt war.
Der Fahrer setzte sie am Fuß von The Berg ab und entschuldigte sich: Es war zu schlammig, als dass er hätte weiterfahren können. Die Seilbahn, die sie eigentlich hinaufbefördern sollte, siechte noch immer leblos im Dreck neben dem Pfad, wo sie schon gelegen hatte, als sie eingezogen waren. Anja half Louis, seinen Rollkoffer den gewundenen Pfad hinauf zu schleppen, wuchtete ihn über größere Steine und Pfützen.