Die Siebte Sage. Christa Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christa Ludwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772542701
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sie ihm zu.

      Er nickte.

      Sie fand die Zuchtstuten schnell. Es ging auf den Abend zu, und die Herde war schon auf dem Heimweg. Es waren 24 Sorraia-Stuten, alles Falben. Sechs hatten schon ihre Fohlen geboren, dunklere, wollige Körperchen sprangen auf endlos langen Beinen um sie herum. Es führte sie Je-ledla, die alte Leitstute, es trieb sie von hinten ein weißer Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Dshirah ritt auf ihre alte Freundin Je-ledla zu. Auf ihr hatte sie reiten gelernt. Um den Hengst kümmerte sie sich nicht. Er würde folgen. Sie legte Je-ledla das Halfter an.

      «Wohin?», fragte sie.

      «Ich mache bestimmt alles falsch», sagte Silbão.

      «En-Wlowa liegt ungefähr da», Dshirah zeigte nach Norden.

      Silbão nickte: «Ja, aber wir müssen nach Westen.»

      Dshirah ritt mit Je-ledla voraus. Die Herde folgte. Schon stand die Sonne am westlichen Himmel, aber noch hoch, sie zeigte keine rötliche Färbung. Es ging leicht abwärts, der Weg wurde steiniger, nah im Norden sahen sie den flachen Hügelzug, hinter dem En-Wlowa liegen musste. Plötzlich fiel Dshirah mit einem jähen Schrecken ein, dass sie sich freuen musste. Sie hatten bestimmt schon mehr als die Hälfte des Weges hinter sich, und sie hatte sich noch nicht ein kleines bisschen daran gefreut. Es war so wichtig, dass sie sich freute. Denn dies war ihr letzter Ritt auf einem Sorraia-Pferd.

      In Afrika gibt es Pferde, hatte Januão gesagt.

      Kleine, hatte Januão gesagt.

      Sorraias gab es da offenbar nicht.

      Ich muss mich freuen, dachte Dshirah, jetzt, schnell!

      «Oh, wir müssen traben!», rief Silbão. «Wir müssen schneller sein als sonst. Ich muss dir ja noch alles erklären. Los!»

      Er stieß seinem Pferd die Hacken in die Seite. Das machte einen Satz und hätte er nicht die Hand in der Mähne gehabt, wäre er hinuntergefallen.

      Dshirah trabte an. Je-ledla lief ruhig neben ihr.

      «Schneller!», rief Silbão. «Sonst fängt Januão an zu pfeifen und du weißt nicht wohin!»

      Sie ritten der Sonne entgegen.

      Freuen!, dachte Dshirah, ich muss mich freuen.

      Sie schaute zurück. Hinter ihr wogten die Rücken der hellen Pferde wie ein gelber Fluss. Sie trabten, nur der Hengst – eine weiße Schaumkrone am Schluss – galoppierte. Er war ein ausgebildetes Reitpferd und beherrschte den langsamen Galopp. Dshirah beugte sich nach rechts und legte Je-ledla eine Hand auf die dunkle Mähne hinter den Ohren. Nie wieder würde sie dieses Pferd berühren. Nie wieder eines, das so ähnlich aussah.

      «Da!», rief Silbão. «In die Senke.»

      Jetzt verstand Dshirah, warum ihnen die Pferde so willig gefolgt waren. Die Senke war voller Silbergras. So nannten sie die langen, dünnen Halme, weil sie von einer Seite silbrig schimmerten. Alle Pferde liebten Silbergras. Da würden sie bleiben, bis Januão sie rief, obwohl daheim am Stall ihre salzigen Lecksteine auf sie warteten. Dshirah zog Je-ledla das Halfter über die Ohren. Nun musste sie auch die Stute gehen lassen. Sofort hatten alle Pferde ihre Nasen im Gras, nur die Fohlen ließen sich von den dünnen Halmen die Nüstern kitzeln. Dshirah und Silbão aber ritten davon, jetzt auf die Hügelkette zu. Sie folgten einem kleinen Bach, der von den Bergen kam und der am Fuß des Hügels in einer Höhle verschwand. Dort nahm Dshirah Je-ledlas Halfter auseinander und fesselte damit ihren beiden Pferden die Vorderbeine. Sobald die Januãos Pfeife hörten, würden sie versuchen, dem Ton zu folgen. Silbão kletterte schon den Hügel hinauf. Dshirah folgte.

      «Wart mal», rief sie ihm leise nach. «Du musst nachher mit den Pferden zu Januão. Kriegst du sie über den Bach?»

      Silbão nickte: «Mach ich immer!»

      Verborgen hinter Felsen und Sträuchern schauten sie hinüber auf die Blumenmauer von En-Wlowa, mitten darin drei Blumentore, darunter je zwei Wächter in roter Uniform, bewaffnet mit Speer und Pfeil und Bogen, stehend neben ihren gesattelten Pferden.

      Silbãos Unterlippe zitterte.

      «Nicht stottern jetzt», sagte Dshirah und griff nach seiner Hand. «Du musst mir nun erklären, was ich tun soll.»

      Er nickte, presste die Lippen zusammen, aber als er sie wieder öffnete, zitterten beide, und alles, was er schließlich herausbrachte, war: «I-i-i-ich mache alles falsch.»

      Dshirah versuchte zu fragen.

      «Januão wird gleich die Pferde rufen?»

      Er nickte.

      «Die Wächter werden ihre Pferde halten müssen. Oder die werden ihnen durchgehen. Und dann soll ich da irgendwie rein?»

      Er nickte.

      «Man kann durch die Mauer?»

      Er nickte.

      «Wo?»

      Er zeigte nach Westen.

      «Also», flüsterte Dshirah, «also laufe ich los, wenn die Herde dort vorbei ist?»

      «Ja.»

      Dshirah hielt den Atem an, immerhin, ein Wort hatte er wieder herausgebracht. Sie wartete, dass er weitersprach.

      «Du musst nur hinter die Blumen. Da. Die hängen da runter. Dann sehen sie dich nicht mehr. Dann musst du gucken und das Loch finden. Aber schnell! Sonst bringen sie dich um.»

      «Warum rennen die da drin dann nicht alle weg?»

      «Sie rennen. Aber sie kommen nicht weit. Wenn die wegrennen, dürfen die Wächter sie erschießen. Januão sagt, das soll so sein. Wenn sie nicht immer mal welche erschießen, wird es da drin zu voll. Ist schon voll.»

      «Was soll ich machen da drin?»

      Silbão zuckte die Achseln.

      «Warten. Bis wir dich rausholen. Sie kriegen zu essen.»

      Er kroch auf dem Boden herum, hielt sich verdeckt von dem niedrigen Strauch, er hob kleine Steine auf, ließ sie fallen, behielt einen spitzen mit scharfer Kante.

      «Komm!»

      Er zog sie zu sich heran, säbelte mit dem Stein an dem Hirtenzeichen auf ihrer Schulter herum, bis er eine Ecke gelöst hatte, da riss er es ab.

      «Jetzt siehst du aus wie die anderen. Nur dicker.»

      «Ich habe Angst.»

      Er nickte.

      «Du gehst zum letzten Haus nach Nordosten, da fi-fi-fi-»

      «Silbão!»

      Sie schrie zu laut, sie wusste es. Sie packte seine Schultern und schüttelte ihn. Manchmal, wenn die Worte in ihm stecken blieben, konnte man sie herausschütteln.

      «Ma-ma-ma-ma-meine Schwester. Du erkennst sie, man erkennt sie immer noch.»

      Jetzt zitterte Dshirahs Unterlippe. Silbãos Schwester war seit fast zwei Jahren verschwunden.

      «Deine Schwester?», fragte sie. «Ist die da? Da ist sie?»

      Aber Silbão konnte nicht mehr reden. Er öffnete den Mund. Sie sah, wie seine Zunge darum kämpfte, Laute zu formen, er fasste sich an den Hals, aber er stieß nur tonlose Luft heraus, würgend, als hätte er eine Fischgräte in der Kehle.

      Da hörten sie aus der Ferne einen langen, leisen, klagenden Ton. Sie wandten die Gesichter nach Osten. Dshirah schloss die Augen. Alles, was ihr Bruder spielte, erkannte sie am ersten Ton. Dies war sein traurigstes Lied. Wie hätte es auch anders sein können. Januão spielte Flöte, seit er das Instrument halten konnte, aber er hatte bis jetzt nicht gelernt zu spielen, was andere von ihm forderten. In seine Flöte floss immer, was er im selben Atemzug spürte. Dieses Lied hatte Dshirah zum letzten Mal gehört, als ihr winziges Schwesterchen vor zwei Jahren starb. Silbão stieß sie an und drehte ihren Kopf zur Blumenmauer. Auch die Wächter schauten nach Osten, alle. Ihre Pferde fingen