Feuersetzen. Tom Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tom Wolf
Издательство: Bookwire
Серия: Hansekrimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935160
Скачать книгу

      »Unruhe ist nicht gerade das, was ich suche …«, wandte Volpi ein.

      Bartholdi lächelte. »Das Haus ist bloß nach dem Erbauer so genannt, Jobsts Oheim: Unruh! Es steht zwar an der lautesten Mühle, der Daniel- oder Kehlmannmühle, an der Ecke von Abzucht und Unterer Mühlenstraße, aber es hat dicke Mauern. Jobsts Bibliothek ist weit besser ausgestattet, als meine hier … Er sitzt schon seit 25 Jahren im Rat. Wenn es eine erste Adresse für Euch gibt, Magister Volpi, dann ist es die! Ich werde später einmal kommen und nachsehen, ob meine Wahl für Euch die richtige war …«

      Von der Breite seines Grinsens her schien sich Bartholdi seiner Sache jetzt sehr sicher zu sein.

      »Doktor Volpi, wenn ich bitten darf!«

      Bartholdi nickte eilfertig und verlachte zuinnerst die Eitelkeit der Gelehrten. Von ihm aus auch Doktor …. Gelehrter hin, Gelehrter her – Gelehrter fort war jetzt am besten. Ein neuer Stoß Akten vom Reichskammergericht war gekommen … Dutzende von Mappen, vollgestopft mit beschriebenem Papier, ein heilloses Chaos, Kraut und Rüben … Aus reiner Schikane hatten herzogliche Schergen irgendwo auf dem weiten Weg von Speyer nach Goslar die Sendung durchwühlt. Er, Bartholdi, musste das viele Papier wieder ordnen, die Schriftstücke in Registern erfassen, Blatt für Blatt auffindbar ablegen. Wozu das alles? Das wusste keiner mehr. Der Rechtsstreit war seit Langem bloß ein Klumpfuß für die Verwaltung. Der Streit um den Rammelsberg hatte eine Abraumhalde an beschriebenem Papier hervorgebracht. In Bartholdis Träumen brannte es unentwegt. Das Ratsarchiv in hellen Flammen – das wäre seine Erlösung! Doch es müsste gewissermaßen ein selektiver Brand sein, einer, der nur die nervtötenden Akten dieses unseligen Bergprozesses erfassen, das übrige Archiv und die Bücher aber unangetastet lassen würde … Andererseits … oh nein! Er liebte seine Arbeit ja doch! Was sollte er ohne die Akten tun? Es war schon kurios, dachte er im Fortwackeln, welch unauflösliche Widersprüche das Leben bereithielt.

      »Euch schickt mir der Himmel!«, sagte der feine, dicke Mann zum werweißwievielten Male. Jobsts Freude darüber, dass der Archivar ihm Volpi zugeführt hatte, schien echt und aufrichtig. »Nein, Gerhard, dir allein freilich gebührt der Dank!«, sagte er zu Bartholdi, der sich ebenfalls eingestellt hatte und nun lächelnd den Dank entgegennahm. »Ich wünsche, dass Ihr so lange bleibt, wie Ihr nur immer wollt! Ihr glaubt gar nicht, wie ich das Gespräch mit einem Weitgereisten vermisst habe! Was Ihr mir über Padua erzählt habt, und über die ganze Republik Venedig … Welch ein Gewinn! Hier gibt es auch Weitgereiste, aber deren Reise-Erzählungen kenne ich schon. Und keiner kann sich mit Euch messen! Verzeih, Gerhard, außer dir freilich!«

      Jobst lag sehr daran, seinen Freund Bartholdi nicht zurückzusetzen. Der nahm es dankbar lächelnd zur Kenntnis. Volpi ließ sich das Lob gefallen und schwieg beredt.

      »Ich könnte wohl selbst losziehen, durchaus …«, sinnierte Jobst fort, »… doch ich werde träge. Mag zwar die Gefahr für das eigene Leben ein Gutteil des Reizes beim Reisen ausmachen, so käme in meinem Fall noch die Gefahr für das Zurückbleibende hinzu. Ich will meine Handlung, meine Häuser, meine Bücher und auch meine Gemälde nicht allein lassen. Der Herzog kann schon morgen wieder heranrücken und vor den Toren lungern. Dann wäre alles wieder so wie im Jahr der Bestie … Wir haben so viele Anzeichen wahrgenommen und sollten uns besser rüsten. Doch der Rat ist unschlüssig. Ich weiß nicht, was in den Köpfen meiner Herren Ratskollegen vorgeht. Was muss noch passieren? Derweil tanzen in der Stadt Armut und Hass durch die Gassen. So viele Tote wie im letzten Jahr hat es in unseren Mauern seit damals nicht mehr gegeben …«

      Jobst schloss die Augen. Er dachte an seine Frau Katharina und seinen früheren Gesellen und nachmaligen Kompagnon Gregor Geismar, die beide vor sieben Jahren an den Pocken gestorben waren. Gregors Ehefrau Grete führte ihm seither den Haushalt.

      »Da erschlägt einer seinen Brotherrn, weil der ihm seinen Lohn nicht geben kann. Da ersticht einer einen, den er für reicher hält, doch als er neiderfüllt die Truhen aufbricht, findet er nur ein paar Pfennige. Eine erhängt sich, nachdem sie ihre Kinder ums Leben gebracht hat – weil sie nicht mehr weiß, was werden soll. Ein anderer erschießt einen andern mit einer martialischen Feuerbüchse, und keiner weiß, warum. Die Welt gleicht vollends einem Narrenhaus … Gute Nacht, lieber Doktor! Ab morgen werdet Ihr mir von Euren Fahrten erzählen müssen.«

      Jobst hatte etwas sichtlich Übles abgeschüttelt und aus den untersten Laden seines reichen Vorratsschranks für Mienen ein mattes, aber ehrliches Lächeln hervorgezogen. »Solange Ihr hier seid, sollt Ihr mir erzählen … freilich nur, wenn Euch danach ist! Das wäre der einzige Pachtzins für Eure kleine Gelehrtenkammer, den ich von Euch fordere. Ich hoffe, Ihr findet das nicht unbillig? Außerdem habe ich etwas für Euch – bin gespannt, was Ihr sagen werdet!«

      Volpi konnte die Augen kaum noch offenhalten. Auch setzte ihm das Bier zu, das sie hier brauten. Er nahm entgegen, was Jobst ihm umständlich anvertraute. Es war ein Konvolut Pergamente mit blassen lateinischen Gedichtsspuren.

      Bartholdi sagte erklärend: »Ich fand es bei der Reparatur einer Bibel aus der Bibliotheka Augustana … Raubgut, das sich mit der Entfernung immer mehr legalisiert hat und seit ein paar Jahren in der Goslarer Ratsbibliothek steckt … Im Rücken waren die Streifen verborgen … Vielleicht hilft es Euch beim Einschlafen.«

      Volpi las den Titel: Pervergilium Veneris, übersetzte: Nachtfeier der Venus … und empfahl sich.

      »Oh Jahrhundert! Oh Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn man auch nicht ausruhen darf, Tomaso! Die Studien blühen auf, die Geister regen sich. He, du! Barbarei! Nimm einen Strick und erwarte deine Hinrichtung! …«

      So enthusiastisch und voller Überschwang hatte Volpi den Brief an den Bruder in Paris begonnen. Wenn er auch sonst am Rande der dunkelsten Verzweiflung reiste, so war der Gedanke an Tomaso stets der Lichtblick, der ihn den nächsten Tritt wieder sicher setzen ließ. Doch weiter kam er vorerst auch an diesem Abend nicht. Weiter in diesem … Brief … war er seit Köln nicht gekommen …

      Auch wenn Volpi also der Barbarei in diesem Jahrhundert theoretisch keine Chance mehr einräumte, so war er doch barbarisch matt. Unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, legte der Weitgereiste sich zur Ruhe – im Unruh-Haus. Der Schlaf hielt sich auf Abstand. Dazu waren das Wasserpatschen des Kehlmannmühlrads zu laut und die Eindrücke des beschwerlichen Harzabstiegs und der Ankunft noch zu rege. Das wäre es noch, dachte er, wenn ihn außer der Inspiration jetzt auch der Schlaf dauerhaft zu fliehen beabsichtigte! Dann könnte er sich rund um die Uhr den Kopf zermartern, auf der Suche nach dem neuen Grün in seinen ausgedörrten Gedanken … Eine steinige Halde war sein Gemüt, kein Halm spross, keine grüne Zeile entwand sich dem harten Boden, den nichts überzog außer Trockenrisse …

      Volpi lauschte den Nachtgeräuschen der fremden Stadt. Eine Nachtigall schlug, dass es eine Freude wäre – hätte man eine Liebste, an die man denken könnte … Der Vogel war bloß lästig … Er dachte an Johanna und hörte im Geist nur eine katholische Brieftaube krächzen, eine Rabenkrähe … Das Schlagen und Läuten der Glocken störte ihn, auch das Malmen und Walzen und Wassergeplärr der Mühle und des großen Rades. Dazu gesellte sich der ausrufende Nachtwächter, der seine genau ausgetüftelte Runde durch die Stadt machte. Immer kurz nach dem Dreiviertelschlag war er mit seinem Spruch zu hören, in dem sich nur die Stunden abwechselten. Warum man Menschen, die doch im Grunde bloß in Ruhe schlafen wollten, stets sagen musste, wie spät es war? Wenn es sie interessierte – im Traum etwa –, dann konnten sie es ohnehin am Glockenschlag erkennen, der es ihnen selbst im allertiefsten Schlaf einhämmerte. Auch der dringliche Hinweis, das offene Licht zu löschen, kam Volpi angesichts der vorgerückten Stunde mehr als überflüssig vor. Die jahrzehntelange Erziehung zur Vorsicht schien bei den Goslarern gründlich gewirkt zu haben. Nach Einbruch der Dunkelheit war’s allda naturgemäß zappenduster.

      Volpis Gedanken wollten und wollten nicht ruhen. Jetzt hatten sie wieder Feuer gefangen. Warum stand er nicht auf, entzündete seine Kerze, die er mitführte für den dringenden Fall, dass er schreiben müsste? Wahrscheinlich könnte er es jetzt! Oh ja, er würde schreiben, bis der Wächter wieder vorüberkäme! Eine Strophe, eine zweite, dann noch eine – für jede weitere Stundenrunde