Der Leutnant nahm den Handapparat des Feldtelefons ab und drehte die Kurbel.
»Holen Sie ›Blaumeise‹ ran«, sagte Leutnant Holler. »Und schicken Sie auch gleich den Nachrichtenstaffel-Führer zum Gefechtsstand.«
Der Gefreite wiederholte den Befehl. Als er gleich darauf wieder sprach, klang seine Stimme erregt.
»›Blaumeise‹ antwortet nicht, Herr Leutnant«, sagte er. »Die können doch nicht klammheimlich abgebaut haben?«
»Unsinn«, versetzte Holler. »Wird ’ne Störung sein. Versuchen Sie’s später noch mal!«
Er legte auf und läutete ab. Im gleichen Augenblick trat der Nachrichtenstaffelführer ein.
»Unteroffizier Kolb zur Stelle.«
»Störungssucher immer noch nicht zurück?«, fragte Hauptmann Martin. Gestern Mittag waren zwei Mann losgezogen, um die gestörte Fernsprechleitung zum Abteilungsgefechtsstand zu flicken.
Der Unteroffizier nahm erneut Haltung an.
»Nein, Herr Hauptmann. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was da los ist. Lenk und Pohlmann sind doch zwei alte Hasen. Wenn etwas Besonderes wäre, hätten die beiden unter allen Umständen den Draht angezapft, um Meldung zu machen. Es ist beinahe so, als ob ringsherum alles weg wäre, und wir wären allein übrig geblieben.«
»Wie kommen Sie darauf, Kolb?«, fragte der Batteriechef.
»Alle Leitungen nach außerhalb sind tot, Herr Hauptmann«, antwortete der Unteroffizier. »Und mit dem Funkverkehr sieht es praktisch nicht anders aus. Was zu hören ist – sogar zum Teil auf unseren Frequenzen –, sind verschlüsselte russische Sprüche. Und das Arifeuer im Westen. Die Italiener werden doch nicht getürmt sein?«
Hauptmann Martin schüttelte den Kopf, obgleich er im Stillen die Befürchtung des Unteroffiziers teilte. Zweifellos war seit gestern Schwerwiegendes an der Front geschehen.
Martin griff zum Handapparat des Fernsprechers und befahl, ihn mit dem Gefechtsstand der Pioniere zu verbinden. Gestern früh war die Pionierkompanie unter Oberleutnant Mareiner auf Weisung der Division als Verstärkung in Lysselkowo eingerückt. Mit den Pionieren hatte es eine besondere Bewandtnis: Sie waren am 21. November in die Katastrophe im Donbogen geraten und waren im Gegensatz zu den meisten anderen Einheiten nicht nach Osten in Richtung Stalingrad, sondern nach Westen abgedrängt worden. Zwei Wochen lang hatten sie als Bestandteil einer Alarmeinheit am Tschir gekämpft, dann waren sie auf höheren Befehl dem Pionierbataillon der Division zur besonderen Verwendung unterstellt worden. Martin fand es beruhigend, dass jetzt außer seiner Batterie noch etwas im Dorf war. Eine Artilleriestellung, vor der möglicherweise nichts Eigenes mehr war, ließ sich mit den Geschützen und den Trossleuten allein nicht verteidigen. Die Pionierkompanie jedoch war eine erprobte Kampfeinheit. Vor allem war sie reichlich mit Minen aller Art ausgestattet.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Oberleutnant Mareiner, ein Tiroler aus der Gegend von Kufstein, die auch Martin gut bekannt war.
»Können Sie mal ’rüberkommen, Herr Mareiner?«, fragte der Hauptmann.
»Schon im Bild«, gab Mareiner zurück. »Bin in fünf Minuten bei Ihnen, Herr Hauptmann.«
Martin wandte sich dem Nachrichtenstaffelführer zu.
»Ist gut, Kolb. Sehen Sie weiter zu, dass die Verbindungen wieder zu Stande kommen! Sobald Sie Erfolg haben, läuten Sie mich an!«
Der Unteroffizier verließ den Gefechtsstand, in dem währenddessen auch der Batterietrupp munter geworden war.
Einer der Melder, der Obergefreite Kranz, legte trockenes Holz, das von einem abgerissenen Zaun stammte, auf die Glut im Ofen.
Bevor Hauptmann Martin in seine kleine Stube zurückkehrte, bedeutete er Leutnant Holler, sich mit dem Pionieroffizier bei ihm einzufinden, sobald dieser im Gefechtsstand eintreffe. Die bevorstehende Besprechung sollte nicht vor den Männern stattfinden. Wenn man die Mannschaft vorzeitig beunruhigte, war das nur der Keim für Parolen und Gerüchte, die womöglich dem Ausbruch einer Panik Vorschub leisteten. Im vergangenen Winter hatte Hauptmann Martin eine solche Panik bei einer schwer angeschlagenen Kompanie erlebt, die Hals über Kopf ihre Stellung verlassen hatte.
In der Stube war es empfindlich kalt. Der Hauptmann zog seinen Übermantel an und rieb sich das schmerzende linke Bein. Als er sich gerade eine Zigarette anzündete, auf nüchternen Magen, da die Feldküche den so genannten Kaffee erst später ausgab, erschienen Oberleutnant Mareiner, der athletische, abgehärtete Tiroler, dem die Kälte nichts anzuhaben schien, und der kleine Leutnant Holler.
Mareiner hielt nicht viel vom steifen Komment des großdeutschen Offizierskorps. Mit einem »Servus, Herr Hauptmann« ging er, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt, auf Martin zu.
Der Batteriechef ergriff die hart zupackende Hand des Pionieroffiziers. Im Stillen sagte er sich, ein richtiger Kerl sei mehr wert als alle preußische Akkuratesse.
»Kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben, Herr Hauptmann«, sagte Mareiner. »Mir scheint, dass es hier in der Gegend obergewaltig stinkt. Haben Sie inzwischen etwas von Ihrem Wachtmeister gehört?«
»Nein«, gab Martin zurück, »das kommt ja zu allem Übrigen noch dazu. Fendt ist mein bester Portepeeträger. Wenn der sich in Schweigen hüllt, muss es vorn bei den Italienern mehr als mulmig aussehen. Denken Sie, auch von den ausgeschickten Störungssuchern haben wir nichts mehr gehört.«
»Wenn Sie mich fragen, Herr Hauptmann«, meinte der Oberleutnant, der über der Uniform einen Mantel aus abgeschabtem Schaffell trug, »also, wenn Sie mich fragen, dann sage ich Ihnen klipp und klar: der Russ’ hat die Italiener am Don überrannt und ist längst an Lysselkowo vorbei.«
Martin wiegte bedächtig den Kopf.
»Wenn es so wäre, Herr Mareiner, dann hätten doch wenigstens ein paar Versprengte hier auftauchen müssen. Es ist undenkbar, dass der Russe die ganze italienische Armee einfach geschluckt hat.«
»Ich habe im November den Zauber bei den Rumänen erlebt«, warf der Oberleutnant ein. »Da hat man auch nicht mehr gewusst, wo oben ist und wo unten. Für solche Pannen ist nicht jeder gebaut, Herr Hauptmann. Das kann nur die deutsche Wehrmacht mit ihrer Elefantenhaut verkraften. Aber was sollen wir viel herumreden? Ich schlage vor, dass ich mich mal in der näheren Umgebung umschaue.«
»Gerade das wollte ich anregen, Herr Mareiner«, entgegnete der Hauptmann. »Wir müssen Klarheit haben. Erst dann können wir Entschlüsse fassen.«
»Sehr richtig«, stimmte Mareiner zu, »und deshalb will ich keine Zeit verlieren.«
Oberleutnant Mareiner, im langen Russenschneehemd, glättete, auf die hohen Stöcke gestützt, die Laufflächen seiner schmalen karelischen Skier. Die acht Mann, die sich mit ihm am Westrand von Lysselkowo zum Aufbruch ins Ungewisse bereitstellten, hatten die gleiche russische Winterausrüstung wie er. Ende November, auf dem Rückzug zum Tschir, als die Kompanie, oft in schwere Nachhutgefechte verwickelt, in der verschneiten Steppe T-Minen verlegte, um das Vordringen der feindlichen Panzer aufzuhalten, hatten sie eine starke russische Schneeschuh-Patrouille überwältigt und die Schneehemden, Skistöcke, Schuhe und Skier vereinnahmt. Da die Kompanie sich vorwiegend aus Tirolern und Oberbayern zusammensetzte, war es Mareiner nicht schwer gefallen, Leute zu finden, die mit der Skiausrüstung umgehen konnten. Schon bei den nächsten Unternehmungen hatte er festgestellt, wie brauchbar der Ski, insbesondere der Langlaufski, auf der winterlichen Steppe war. Und in dieser Stunde, als er auszog, um zu erkunden, was sich im Laufe des gestrigen Tages und der Nacht im Abschnitt der Italiener ereignet hatte, begrüßte er es ganz besonders, dass seine Pioniere und er gut getarnt und beweglich waren und somit rasch verschwinden konnten, wenn seine Vermutung zutraf. Für ihn hatte die italienische Front sich unter dem Ansturm der Russen aufgelöst wie vor knapp vier Wochen die der Rumänen. Wenn seine Annahme richtig war, würde er nach seinem Dafürhalten bei seinem Spähtruppunternehmen eher auf Rotarmisten als auf Italiener stoßen.
Er rückte seine Maschinenpistole zurecht, die ihm vor der Brust hing,