Ma lächelte mich warm an. »Du warst ein Teenager, Liebling. Man kann dir nicht die Schuld geben, es nicht gesehen zu haben, vor allem, wenn er Dinge sagte, die er nicht so gemeint hat.« Sie seufzte und sah so müde aus, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Er war ein guter Mann, Charlie, bis zu dem Tag, an dem deine Mutter gegangen ist. Danach war er nicht mehr derselbe. Zu stolz, glaube ich, um zuzugeben, dass er sich wünschte, die Dinge wären anders.«
Danach war es still und ich drehte die nächste Seite um. Es gab Abrissspuren, wo einst ein Foto gewesen war, das später herausgerissen worden war. Genau wie auf der nächsten und übernächsten Seite.
Ich nahm an, dass sie von meiner Mutter waren.
Der letzte Eintrag war ein Bild von mir. Ich war vielleicht vier Jahre alt, hielt einen Fisch, der halb so groß war wie ich und trug zu große Reitstiefel. Ich grinste wie das glücklichste Kind der Welt. Ein Kind, das nicht wusste, dass sich seine Welt für immer verändern würde.
Trav legte mir eine Hand in den Nacken und beugte sich vor, aber nicht, um sich das Bild anzusehen, sondern um mir näher zu sein. »Erinnerst du dich daran?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann betrachtete ich erneut das Foto. »Aber ich glaube, ich erinnere mich an die Stiefel.«
Travis lachte. »Jap. Du bist wirklich schwul.«
Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an, lachte aber leise. Als Nächstes kam das Sammelalbum. Es war genauso alt, die Seiten vergilbt und staubig. Darin befanden sich eingeklebte Zeitungsartikel, ein paar Fotos von mir und einige Erwähnungen. »Du hast Bullen geritten?«, fragte Travis.
»Jap. Bis ich etwa zwölf war und mir das Handgelenk an zwei Stellen gebrochen habe.« Ich hatte ihm schon erzählt, dass ich mir das Handgelenk gebrochen hatte, bevor mein Dad ein wichtiges Treffen hatte. »Danach hat mir mein Vater verboten, noch einmal ein Rodeo zu reiten.«
Einige der Ausschnitte erwähnten die Sutton Station, bei anderen ging es direkt um mich und die School of the Air. »Es war keine normale Schule«, erklärte ich. »Es gibt keinen Mannschaftssport, keine außerschulischen Aktivitäten oder so was, wenn das nächste Kind zweihundertfünfzig Kilometer weit weg ist. Pi mal Daumen.«
Travis schüttelte den Kopf. »Deine Kindheit war ganz anders als meine«, sagte er.
»Sie war ziemlich toll«, gestand ich. »Reiten, Motorrad fahren, Bullen jagen… von Bullen gejagt werden.«
Ma deutete auf ihre Haare. »Siehst du die grauen Strähnen?«, sagte sie und hob die Brauen. »Jede einzelne davon habe ich wegen etwas bekommen, das er getan hat.«
Die Zeitungsartikel reichten von meiner Kindheit bis zum Teenageralter. Der letzte Ausschnitt war nicht eingeklebt, sondern einfach nur gefaltet und zwischen zwei Seiten gesteckt worden. Und er lag nur wenige Jahre zurück.
Soweit ich es beurteilen konnte, sah er aus, als wäre er aus dem Magazin der Beef Farmers Association ausgeschnitten worden, genau wie die Ausgabe, die wir letztens mit meinem Gesicht auf dem Titelblatt bekommen hatten. Aber das hier war nur Text, scheinbar ein Interview mit meinem Vater.
Er sprach darüber, dass die letzten Viehpreise etwas niedriger waren, als ihm lieb war, die Saison aber gut gewesen war. Als sich die Unterhaltung dann auf die Familienangelegenheiten konzentrierte, bemerkte der Journalist:
Charles Sutton sprach stolz über seinen Sohn und sagte, dass er in Sydney Landwirtschaft studiert. »Soviel wir auch davon lernen können, auf dem Land zu leben, liegt die Zukunft in Bildung«, sagte er. »Charlie wird ein besserer Farmer sein, besser, als ich es je sein könnte.«
Der Interviewer hatte gescherzt und sich gefragt, ob ein junger Mann ins Outback zurückkommen würde, nachdem er vom Stadtleben gekostet hatte. Charles Sutton lachte, als wäre es ein Insiderwitz. »Es ist ein hartes Leben, dem würde niemand widersprechen. Aber fragen Sie jeden von uns – wir würden es nicht anders haben wollen. Charlie wird zurückkommen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er es liebt.«
»Sie müssen sehr stolz auf Ihren Sohn sein«, sagte der Interviewer. Charles Sutton antwortete mit einem durchschlagenden Wort. »Sehr.«
Ich las das Interview. Und dann las ich es erneut. Und ich schluckte die Tränen hinunter, während Travis und dann Ma den Artikel lasen. »Ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Hat er gelogen, als er das gesagt hat? Warum würde er sie anlügen? Warum sollte er diese Dinge sagen? Sie stimmten nicht.«
»Charlie«, murmelte Travis. »Sie stimmten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir das Gegenteil gesagt. Er hat es mir gesagt. Ma war da, genau wie George. Sie haben gehört, was er gesagt hat.«
Ma runzelte die Stirn. »Oh, Liebling.«
Travis nahm unbeeindruckt meine Hand. »Charlie, wir sind ziemlich gut darin geworden, über Dinge zu reden, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ich versuche, besser zu werden.«
Er lächelte. »Du machst das toll.« Er drückte meine Hand. »Aber erinnerst du dich an den Anfang? Es war nicht leicht.« Er sprach so ruhig. »Für dich war es einfacher, zu lügen und zu sagen, dass es dir gut geht, wenn das nicht wirklich der Fall war. Du hast so hart gekämpft und es war leichter, Nein zu sagen, in den Verteidigungsmodus zu schalten und so zu tun, als würde es dich nicht interessieren, als jemanden auch nur eine Sekunde lang glauben zu lassen, dass du ihm gegenüber offen wärst.«
Ich schluckte, damit ich sprechen konnte. »Aber warum sollte er bei einem Interview lügen? Er hätte einfach sagen können, dass ich auf dem College war und es dabei belassen können, aber das hat er nicht. Er hat weitergeredet. Das ergibt keinen Sinn.«
Travis schüttelte den Kopf, als würde ich das Offensichtliche nicht erkennen. »Er hat sie nicht angelogen, Charlie. Was er zu dir gesagt hat, war nicht die Wahrheit. Er war stolz auf dich. Er konnte es dir nur nicht sagen.«
Ich schüttelte den Kopf. Es ergab keinen Sinn.
»Genau wie für dich, war es für ihn einfacher, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, als dem Menschen, den er liebte, die ganze Wahrheit zu sagen. Es ist leichter, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, weil man nicht riskiert, zurückgewiesen zu werden. Siehst du es nicht? Für ihn war es leichter, dir gegenüber so zu tun, als wäre es ihm egal, weil er bei dir das meiste zu verlieren hatte.«
In diesem Moment sah ich Travis an. Sah ihn wirklich an. Neben mir saß der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich kannte, hielt meine Hand und sah mich mit den blauesten Augen aller Zeiten an. Er kannte jedes meiner Geheimnisse, jede meiner Stimmungen, Träume und Wünsche, er hatte meine schlimmsten Seiten gesehen und saß trotzdem noch neben mir.
»Hörst du, was ich sage, Charlie?«, fragte Travis sanft.
Nickend schluckte ich den Kloß in meiner Kehle hinunter und ignorierte das Brennen in meinen Augen. »Du bist wirklich irgendwie perfekt, weißt du das?«
Ma schnaubte und als wir zu ihr sahen, wischte sie sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ihr Jungs bringt mich zum Weinen.«
In dem Moment kam Nara in die Küche und blieb stehen, als sie uns sah. »Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich bin nur gekommen, um beim Mittagessen zu helfen.«
Was uns alle dazu brachte, auf die Uhr zu sehen. Scheiße, der Vormittag war fast vorbei. Ich stand auf und legte alles wieder in die erste Schachtel zurück, als mir klar wurde, dass ich die zweite nicht einmal angerührt hatte.
»Ich hab noch gar nicht mit dem Mittagessen angefangen«, sagte Ma.
»Ich hätte Nugget mittlerweile füttern müssen«, fügte ich hinzu, sah aber zu dem ungeöffneten Karton zurück.
Ma legte eine Hand auf meinen Arm. »Mach ihn auf, Charlie. Verschwende keinen weiteren Tag. Ich kann die Flasche für Nugget fertig machen…«
»Wisst ihr was?«, sagte Travis.