Verschwörungsmythen. Michael Blume. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blume
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783843612876
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und des Dualismus. Und sie wird, daran kann leider kein Zweifel bestehen, auch in Zukunft noch Leben zerstören. Aber die Menschheit ist dabei, aus dieser Falle herauszufinden – umso schneller, je mutiger und neugieriger wir sind. Denn – um diese Einleitung mit den letzten, tiefen Sätzen aus Adornos Vortrag enden zu lassen –: »Wie diese Dinge weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«22

      Dr. Michael Blume

       20. Juni 2020

      1. Platons Falle des Dualismus

       »Philosophie in unserem Jahrhundert

       ist Aufklärung ohne den Glauben

       an die Unschuld des Denkens.«

       Bettina Stangneth (2016)23

      »Der Tiefgang einer Philosophie

       misst sich – falls das ein Messen ist –

       nach ihrer Kraft zum Irren.«

       Martin Heidegger (1938/39)24

      Vielleicht haben Sie sich ja auch schon einmal die Frage gestellt, warum das Deutsche Reich vom »Land der Dichter und Denker« in den 1930er-Jahren zum »Land der Richter und Henker« werden konnte?25 Die schreckliche Wahrheit ist: gerade darum.

      Im Gefolge der Aufklärung wollen wir immer noch glauben, dass Denken »immer gut« wäre – und dass jene, die Böses tun, eben »zu wenig nachgedacht« hätten. Doch inzwischen besteht sowohl aus der Perspektive der Natur- wie auch der Geisteswissenschaften leider kein Zweifel mehr daran, dass das nicht stimmt.

      Wir denken mit einem Säugetiergehirn – »eine etwa 1,4 kg schwere, gefurchte Masse von gallertartig-buttriger Konsistenz«. Die Evolution unserer Art hat uns zwar über 100 Milliarden Neuronen (Ner­venzellen) beschert, aber nicht die Orientierung an ab­strakten Wahrheiten belohnt. »Intellektuelle Einschätzungen etwa sind von körperlichen Reaktionen beeinflusst, die wir als Emotionen wahrnehmen.« Die Nervenzellen reichen bis in unsere Zehenspitzen. Jedes Menschengehirn prägt sich in sozialen Wechselspielen mit anderen aus. »Manche meinen sogar, dass es sich bis in andere Gehirne erstreckt, mit denen es interagiert.«26

      Die Gene, aus deren Informationen sich unsere Gehirne entfalten, haben über Millionen von Generationen immer und immer wieder den gleichen Test bestanden: Sie mussten an ausreichend viele Nachkommen weitergegeben werden. Das heißt bei sozial lebenden Säugetieren wie unseren Vorfahren von klein auf: Sie mussten sich in der eigenen Gruppe bewähren und sich auf diese einstellen. Um es in den Worten der berühmten Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy (geb. 1946) zu sagen: »Das gesamte Pleistozän hindurch hing das Überleben von Kindern von deren Fähigkeit ab, den Kontakt zu Müttern und anderen zu halten und sie dazu zu bringen, sich um sie zu kümmern.«27

      Wahrheit war und ist für menschliche Gehirne daher viel weniger relevant als Zugehörigkeit oder Geborgenheit. Unser Gehirn entwickelte vor allem im frontalen Cortex, dem Bereich über den Augen, soziale Fähigkeiten wie die »Theory of Mind« (ToM), die es uns ermöglicht, uns in andere Menschen einzufühlen. Die meisten Menschen können blitzschnell die Gefühle anderer erfassen und nachvollziehen – schon grobe Anhaltspunkte reichen dafür aus, wie man an Emojis sehen kann, die ja nur aus wenigen Strichen bestehen: :-) fühlt sich anders an als :-/ oder gar :-(

      Über ihre starke ToM bestehen die meisten Menschenkinder daher schon am Ende ihres ersten Lebensjahres den Sally-und-Anne-Test: Wenn Sally einen Ball in den Korb getan und Anne ihn später genommen und in eine Schachtel gelegt hat, dann wissen schon Einjährige, dass die wiederkehrende Sally ihn trotzdem zuerst im Korb suchen wird.28

      Dies aber bedeutet eben auch, dass wir Ereignisse sehr viel schneller und intuitiver einem »Jemand« zuschreiben als einem »Etwas«. Das Auftreten einer Krankheit zum Beispiel können wir viel leichter als Werk von Geistern oder Hexen, als Strafe oder Prüfung eines Gottes auffassen denn als »zufällige« Mutation eines Virus. Dem Kognitionspsychologen Robert McCauley zufolge ist »Religion natürlich, Wissenschaft aber nicht«. Unsere Gehirne springen auf packende Erzählungen von Helden, Monstern und Göttern unmittelbar an, wogegen wir »kon­tra-intuitives«, wissenschaftliches Denken erst mühsam erlernen müssen.29

      Und es kommt sogar noch etwas schlimmer: Weil negative Emotionen wie Angst oder Schmerz die Funktion haben, uns vor Gefahren zu warnen, werden sie von unseren Gehirnen tendenziell stärker gewichtet. Wer unsere Aufmerksamkeit haben will, bekommt sie am leichtesten nach dem Motto: »Bad news are good news.« Deshalb brauchen gute Geschichten spannende Schurken – und wenn unser Gehirn keine Gefahren findet, tendiert es dazu, welche zu erfinden.30 Je sicherer wir leben, desto mehr genießen wir Krimis und Thriller.31

      Mit den Chancen wie den Fallstricken unseres sozialen Gehirns ringe auch ich, während ich Ihnen diese Zeilen schreibe: Einerseits kann ich nur durch die ToM wenigstens versuchen, zu erspüren, welche Themen und Worte Sie berühren. Sie sind mir als Leserin, als Leser durch soziale Wahrnehmungen (Kognitionen) schon im Moment des Schreibens präsent. Andererseits aber »lockt« mich Twitter ständig suchtartig mit dem Versprechen sozialer Anerkennung (»Likes«), so wie Trolle durch das Ansprechen negativer Emotionen Aufmerksamkeit einfordern. Meine vollständige Abmeldung von Facebook im Herbst 2019 diente auch dem Selbstschutz – vor den Anfälligkeiten meines eigenen Gehirns.32

      Und schließlich ist unser Gehirn – wie das jedes anderen Erdenwesens – auf einen bestimmten Lebensraum, den Mesokosmos, hin evolviert. Entfernungen des Mikrokosmos (unter 0,1 Millimetern) können wir genauso wenig wahrnehmen wie Entfernungen des Makrokosmos, etwa Lichtjahre. Wenn wir uns den Welten der Quantenphysik oder der Philosophien zuwenden, dann benötigen wir symbolische Bilder, Metaphern, um überhaupt etwas zu verstehen.33

      Und hier kommen die Mythen ins Spiel: Sie sind kompakte Geschichten, mit denen wir – in den Worten von Hans Blumenberg – den allzu weiten »Horizont als den mythischen ›Rand der Welt‹ zu besetzen« versuchen.34 Oder simpler gesagt: Wo die Welt zu klein oder zu groß ist, als dass wir sie (be-)greifen könnten, verschafft uns der Mythos so etwas wie einen Haltegriff.

      Den meisten Japanerinnen ist völlig klar, dass die Vorfahren ihres Kaisers durch Evolution entstanden sind und nicht von der Sonnengöttin Amaterasu geboren wurden. Doch sie achten den Mythos als Symbol des – ebenfalls mythologischen – Staates. Den meisten Europäern ist völlig klar, dass Menschenrechte vor allem eine Idee sind und sich nicht wiegen lassen, doch sie verbinden mit dem Begriff ein Bündel von Erzählungen, Bildern und Hoffnungen. Den meisten Brasilianerinnen ist völlig klar, dass das Motto »ordem e progresso« (»Ordnung und Fortschritt«) auf ihrer Fahne völlig unterschiedlich verstanden werden kann, ebenso wie die 30 Meter hohe Christusstatue in Rio de Janeiro, und doch kann jede auf ihre eigene Weise daraus Kraft schöpfen. Und die meisten Südafrikaner erkennen in »Star Wars« und den Lehren von Yoda eine ebenso reiche wie fiktive, lose an Ereignissen des 20. Jahrhunderts orientierte Mythologie (und die »böse« Gestalt des Darth Vader ist dabei weltweit bekannter als dessen »guter« Sohn Luke Skywalker).35

      Eine einfache Definition könnte lauten: »Ein Mythos ist eine symbolische, mit Bedeutung aufgeladene Erzählung, mit der sich Menschen über ihren Mesokosmos hinaus orientieren.« Wissenschaftlich exakter, aber schwerer verständlich formuliert David Atwood: »Unter einem Mythos werden diejenigen Erzählungen verstanden, die durch die Imagination einer paradigmatischen, d. h. bedeutsamen Geschichte die Welt raumzeitlich ordnen und damit Handlungsanweisungen für Individuen wie für Kollektive anbieten.«36

      Das klingt schwer – und ist es für unser Säugetiergehirn auch –, aber es ist wichtig: Schon wenn wir eine reale Geschichte, beispielsweise des antiken Ägypten, erzählen, »mythologisieren« wir durch die Auswahl des Beginns, der Hauptakteure (Pharaonen, Bäuerinnen, Eroberer?) und des Endes. Ja, auch wenn Sie oder mich jemand auffordert: »Erzählen Sie doch mal von sich!«, so werden wir spontan einen Mythos über uns selbst anlegen, um Wirkungen bei der oder dem Fragenden zu erzielen. Wir werden idealerweise nicht lügen, aber wir werden in einem Bewerbungsgespräch andere Aspekte zur Sprache bringen als auf einer Party, bei einem Date oder in einem Verhör. Einen Menschen, der darauf bestehen würde, allen