Unserer Gegenwart fehlt, wie es so oft gesagt wurde, in der Tat an sich jede Beständigkeit: Im kontinuierlichen Übergang zwischen Zukunft und Vergangenheit hat sie keine Grenzen, durch die sie sich bestimmen ließe. Als Punkt des Übergangs vom einen zum anderen kommt ihr nicht mehr Ausdehnung zu als einem Punkt und folglich auch keine Existenz. Nun, da sie uns doch unaufhaltsam entflieht, leben wir denn dann „wirklich“ (und nicht etwa nur „im Traume“, onar, ὄναρ, wie die Metaphysik sagt?) – wo wir doch ausschließlich in der Gegenwart leben können? Um aus dieser Sackgasse zu entkommen und wieder eine Gegenwart zum Leben („in der“ man lebt) zu finden, haben die Stoiker beschlossen, ihre Ausdehnung handlungsbezogen zu denken: Der Spaziergang existiert für mich, solange ich spazieren gehe, wobei er so seine Gegenwart isoliert und einfasst (Chrysippos). Doch über die Grenzen dieses von der sinnlichen Wahrnehmung erfassten Aktes geht man im Denken auf beiden Seiten, in seiner Erwartung und der Erinnerung an ihn, hinaus, und die wesentliche Kontinuität im Lauf eines solchen in „Akte“ unterteilten Lebens, welche allein eine Gegenwart zeitlich herstellen, geht uns verloren. Setze ich jedoch heute meine Bewusstwerdung „meines“ Todes als den ersten Terminus, wobei dieser kommende Tod in endgültiger Weise den zweiten bildet, wird damit wirklich ein „Präsens“/„Präsent“ – Aktualität und Gabe zugleich – abgegrenzt, das sich damit vom endlosen Fluss der Dauer (vom unendlichen aion) als jene Zeit abhebt, in der ich noch existiere. Meine Gegenwart ist das, was sich mir zwischen dem heutigen Tag, da ich mir meinen Tod tatsächlich vor Augen führe, und eben dem Tag meines Todes in einem Stück präsentiert – sich mir darbietet: sowohl mit einer einzigen „Kunft“ (da es sich nicht länger zwischen Zukunft und Vergangenheit heraustrennen lässt) wie auch mit einer einzigen Ausdehnung (von dem Augenblick, da ich meinen Tod denke, bis zu seinem Eintritt). Nun, bevor ich in die Lage gekommen war, meinem Tod wirklich ins Auge zu sehen (ihn mit „festem“ Blick zu betrachten), was an sich schon die Schwelle zu einem zweiten Lebens bezeichnet, war diese Gegenwart, diese konsistente Gegenwart, für mich nicht sichtbar. Jetzt jedoch tritt sie ohne jedes Zwingen heraus, extrahiert sich aus dem hämorrhagischen Lauf der Dauer, hält sich draußen – „ex-istiert“ – allein durch das Bewusstsein, das ich so von meinem Tod erlange und das ich entschlossen ausschöpfen kann.
Damit ist die „Gegenwart“ nicht länger jene heikle Frage, die sie für die Philosophie darstellt, insofern sie als Augenblick in sich unendlich teilbar ist (Aristoteles); oder insofern sie subjektiv an meiner so fragilen Aufmerksamkeit hängt, gefangen zwischen meiner Erwartung an die Zukunft und meiner Erinnerung an die Vergangenheit (Augustinus). Sie ist vielmehr die aktive Gegenwart eines zweiten Lebens, welches damit beginnt, dass ich ohne weiteren Aufschub, aber auch ohne Selbstmitleid, dem nicht zu datierenden, doch auch nicht zu bezweifelnden Endpunkt meines Lebens ins Auge sehe. Es geht also nicht darum, verzweifelt nach Langlebigkeit zu streben (der chinesische Hang, „sein Leben zu hegen“); auch nicht darum, von einem anderen Leben zu träumen, indem man Versprechen oder Beweisen der Unsterblichkeit Glauben schenkt; nicht einmal darum, ein „gutes“ Leben zu wollen, agathos bios, als könnte man prospektiv zwischen gleichermaßen möglichen Leben wählen, die wie Lose (kleroi) vor einem ausgebreitet werden, so wie es sich die Griechen (Platon) abstrakt (theatralisch) vorstellten. Sondern es geht darum, diese zweite Phase, die beginnt – damit beginnt, dass ihr Endpunkt für mich sichtbar wird –, nach bestem Wissen zu nutzen. Nach bestem Wissen: Die Kategorie ist weder moralisch noch psychologisch; sie ist vielmehr strategisch: Weil ich endlich weiß, dass mein Leben sich mir entzieht, nehme ich mich zurück, überprüfe meine Verpflichtungen, überdenke meine Investitionen, um weiter vorwärts gehen zu können. Dass ich endlich wage, mein Ende in Betracht zu ziehen – dass ich daran denke, daran zu denken –, bildet gerade die Schwelle zu diesem Anfang. Daher ist das Paradoxon, in dessen Aufbauschen die Moralisten sich so gefallen haben, plötzlich nicht mehr relevant: dass es, sobald man zu leben lernt, „schon zu spät“ sei. Oder wie es Montaigne entgegen dem Sprichwort sagt: „Fast besser niemals als so spät“. Denn wozu „sich gut aufs Leben verstehen, wenn einem kein Leben mehr bleibt“ (Essais, III, 10)? Das wäre bloß „Senf nach dem Essen“ … Doch siehe da, ein zweites Leben beginnt in der Tat augenblicklich, ohne dass dazu gute Absichten erforderlich wären, ohne Projektion des Begehrens, ohne Autosuggestion oder Fabulierkunst, allein dadurch, dass ich an sein Ende denke – daran denke, daran zu denken. Vorher nämlich dachte ich nicht daran – konnte es gar nicht. Nun aber, weil ich endlich daran denke, kann effektiv ein zweites Leben beginnen.
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